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Es war in einem solchen Kino gewesen, wo sie ihren ersten Anfall erlitten hatte. Die falsche Stille, das dichte Schwarz hatten sie bedrängt, sie und ihren Atem, die Dunkelheit und das Schweigen waren stofflich geworden und bedrohlich zäh. Plötzlich wusste sie mit allen Sinnen, dass sie ein Mensch war, mit Lungen, die kurz ruhten zwischen zwei Atemzügen. Ich bin ein Organismus, dachte sie, der wie jeder Organismus plötzlich zum Stillstand kommen oder einen Kollaps erleiden kann, so dachte, nein, fühlte sie. Und fühlte sich gefangen in diesem eigenen Körper, weggesperrt, fühlte ihren Körper gefangen auch in sich, eine verwachsene Matrjoschka.

Solche Gedanken sind Verrücktheiten, dachte sie und wollte die Gedanken wegschieben. Es ging nicht. Einer winzigen Einzelheit zu grüblerisch hinterhergespürt, ein verhakter Blick, und das Hirn stürzt los wie eine Lawine ohne Lärm. Einmal zu tief in sich gegangen, und jeder Blick wird zum Endoskop. Sie bekam keine Luft, atmete zu laut und hastig, hatte Angst, dass die Leute auf sie aufmerksam würden, hatte eine Panik vor allem in und außer sich.

Das sind die Augenblicke des Kippens.

Seitdem sah sie sich keine grüblerisch-ruhigen Filme mehr an, nur noch Blockbusterware aus Amerika. Gerade gab es eine Kampfszene mit viel Blut und Glibber. Thorsten lachte. Sie schluckte und versuchte, nicht auf den Schluckreflex zu achten.

Klaustrophobie ist die kranke Version von Selbstreflexivität, gleich an Selbstreflexivität angekoppelt. Nein: Im Herzen der Selbstreflexivität liegt ein Kern, den es nicht zu berühren gilt, sonst schlägt das System Alarm und läuft heiß. Selbstreflexivität heißt im Kern Klaustrophobie. Du spinnst einen Gedankenfaden, er liegt dir leicht in der Hand, wie du ihn spinnst, und plötzlich (weshalb? ein Irrwitz) zuckst du mit der wachen Hand und peitschst den Faden zwanghaft in dein eigenes Gesicht zurück, immer wieder, bis Blut aus den feinen Schnitten tritt. Du beginnst, dir den Faden einzuverleiben, isst ihn, der nass und klebrig von deinem Blut ist, bis du würgst. Keinen Gedankenfaden, ein ganzes Netz knüpfst du und, es ist noch gar nicht fertig, lose Enden überall, wirfst es enthemmt über dich selbst, wirfst es dir über, dann sofort Panik, selbstverschuldete Panik, Zappeln. Wenn du jetzt versuchst, dich zurechtzufinden, vom Netz zu befreien, verhedderst und verwirrst du dich nur noch mehr und liegst bald regungslos am kalten Boden, zuckst nur noch, zweimal, dreimal. Ein Irrwitz, ein Reflex, konvulsivische Bewegung — Todessehnsucht? Der Körper weiß immer mehr als du.

Lauras Atemwege fühlten sich blättrig und ausgetrocknet an. Thorsten rauchte ihr zu viel, und die Klimaanlage im Auto blies stetig trockene, warme Luft in ihr Gesicht, welche die Schleimhäute reizte. Thorsten blies in kurzen Stößen den Rauch gegen das Fenster, der wirbelte zurück und verteilte sich im Wagen. Um dagegenzuhalten, rauchte Laura selbst. Sie hatte Lippenstift aufgetan. Ein roter Fleck auf dem Zigarettenfilter wurde immer dunkler. Sie stieß zwei Hauer dichten Rauches durch die Nase aus, zog wieder, inhalierte tief, blies gegen die Scheibe und beobachtete die zarten, seitlich wegstiebenden Kollisionen des Rauchs, die sie kontinuierlich nährte, während vor dem Glas triste Bretterzäune vorbeizogen.

«Ist Edwin eigentlich noch mit — wie hieß sie noch?»

«Lara?»

«Zusammen?»

«Nein, er hat da irgendjemand anderes jetzt. Wir werden ja sehen.»

«Keks?»

«Ja?»

«Kannst du die Lüftung —?»

«Ja.»

Dachte sie ans Rauchen, dachte sie an Atemwege. Dachte sie an Atemwege, dachte sie an Luftröhre, Flimmerhärchen, Lungenkapillaren, dachte Pneumokokken, Tuberkulose, Embolie, nein, ihr Auge ein Endoskop, nein, nicht. Ihr Auge, das Endoskop, bohrt sich durch die Luftröhre und andere Körperkanäle in das graue Gewebe der Lungen. Verletzt das Zwerchfell, stößt in die Aorta, ins Herz. Alles dreckig, ein Stauen und Schieben dort, die Klappen knattern, nein, nicht. Das Radio anschalten, auf das Gerede hören, sich vom Gerede der Welt dezentrieren lassen, ja: Radio Blitz, Power-News, das Wetterjingle, die Dance-Charts. Das Gerede seine Wirkung entfalten lassen. Das Gerede soll die Verknotung lösen, die Erinnerung zerstäuben. Selber reden hilft auch.

«Gibt es da überhaupt Parkplätze?»

«Wir werden sehen.»

«Wie viele Leute werden denn da sein?»

«Nicht viele. Ich glaube, Edwin und seine neue Flamme, und ein Partner aus seiner Kanzlei.»

«Ich kann jetzt auf keinen Fall viele Leute ertragen.»

«Ist gut, Keks.»

«Ist gut?»

«Ja. Es werden nicht viele sein.»

Thorsten strich sich über die Nase, massierte sie. Laura zündete sich noch eine Zigarette an.

Laura hatte nicht auf diesen Ball gewollt. Thorsten hatte sie, nach dem ohnehin säuerlich verkrampften und leicht männerbündlerischen Essen bei Edwin, dazu überredet, auf seine unverschämt einnehmende Weise, schnell und lethargisierend wie eine weiche Droge. Jetzt war sie hier, und er war weg, er und seine Worte und sein Lächeln, auf der Toilette wahrscheinlich, oder auf Flirtfang.

Dann kam eine auf sie zu, die Sarah hieß und Laura anscheinend kannte. Sie gab ihr die Hand, deutete eine Umarmung an und spielte überschwängliche Wiedersehensfreude. Laura lachte, driftete durch die Leute weiter zum DJ, den sie vom Sehen her zu kennen meinte. Sie fühlte sich fremd. Doch wer beim DJ herumhängt, kann nicht ganz fremd sein. Mit einem Glas Champagner tänzelte Laura wieder fort, um sich alles genau anzusehen: den neuen Feudalismus, die Marmorfugen, die Holzvertäfelung, die blendende Weißheit der Tischdecken, die blanke Frechheit der jungalten Gesichter, die Manschettenknöpfe, die Frisur-Frisuren, die dezenten Dekolletés.

Sie wünschte sich einen noblen Experten herbei, einen ironischen Insider, der das alles kategorisieren und mit ein paar schönen Markennamen wie «Brook Brothers» oder «Ermenegildo Zegna» festzurren würde. Das wäre eine Freude, dachte sie, und eine Sicherheit. Aber statt dieses Experten traf sie nur den schmierigen Cousin eines unbestimmten Bekannten. Sein Name wollte ihr partout nicht einfallen, sie hatte ihn irgendwann auf einem Hausfest der Pfälzer kennen gelernt (und später hatte er «gepapstet», in den «Papst» hinein, wie die Studentenverbindungen ihren Kotzeimer nannten, und Laura hatte sich abfällig über diese Ritualisierung des kollektiven Sichübergebens geäußert und später, als ihr selbst übel war, lieber einsam in einer schattigen Gartenecke abgelegt, dabei an einen französischen Ausdruck für den Vorgang gedacht: faire une pizza).

Der Cousin trug eine Michel-Friedman-Gelmatte zur Schau und schien nur aus Pflichtgefühl mit Laura, der Stehengelassenen, zu reden, was ihr auf die Nerven ging, denn sie wäre ebenfalls lieber weitergegangen.

Deine Dissertation, interessante Fragestellung, auch aus kaufmännischer Sicht: Seine glubschigen Augen sprangen zwischen ihrem Dekolleté und ihrem Gesicht hin und her, während ein galanter Schwall zwischen seinen dünnen Lippen hervorsprudelte, der weder Sinn noch Richtung hatte, nur Form, die immer gleiche, althergebrachte Form der Galanterie. Als sie nichts erwiderte, forderte er sie irritiert zum Tanzen auf. Gerade lief «I will survive» von Gloria Gaynor. Sie willigte ein.

Auf der Tanzfläche schwappte Hass in ihr hoch. Wie affig sich alle bewegten! Der Cousin presste sie gewaltsam in die immergleichen Friesenrockfiguren, Drehung links, Wirbel rechts, Ranziehen, Abstoßen, mit zappelnden Armen und starrem Lächeln. Einmal kugelte er ihr fast die rechte Schulter aus.

«Wieso», schrie sie ihm ins Ohr, «sind die Sachen, die auf euren Adelspartys laufen, eigentlich so schwul?»