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Der Cousin verstand nicht ganz.

«Schwul?»

«So Siebziger-Disco-Zeugs», schrie Laura, «YMCA, Streetlife, Last night a DJ saved my life! Warum?»

Der Cousin lächelte nur, schüttelte schüchtern den Kopf und zerrte sie in eine weitere ungelenke Figur.

«Egal, los, weiter!», feuerte Laura ihn an. «Heb mich mal in die Luft! Zeig’s mir richtig! Los!»

Er lachte verwirrt auf, rief irgendetwas Entschiedenes, fasste Mut und hob Laura mit dem nächsten Taktwechsel an den Hüften hoch. Kurz stand sie über diesem Meer kehliger, fester Worte, gesteifter Kragen und matter Augen, wie eine bunte Boje im Sturm, schwankend und gepeitscht. Die Musik klang sekundenlang lauter, reiner, metallischer als unten. Dann sah sie den erschrockenen Ausdruck im Gesicht des Cousins. Er versuchte sie zu halten, aber der Schweiß in seinen Handflächen war wie ein Ölfilm. Sie entglitt ihm, kippte nach hinten. Auch die Gesichtszüge des Cousins entglitten in Panik. Die Farben über Laura verschwammen.

Ein dumpfer Klang hinter der Stirn, ein scharfer Schmerz im Hinterkopf, wie Streusalz im Schnee, ein Knistern und Ätzen. Sie roch noch herbes Männerparfüm. Dann zog sich die Welt zusammen zu einem Punkt.

Schulterschlüsse und satte Grimassen, gepeelte Gesichter, geschenkte Gefühle. Eine Pickelfresse starrte Thorsten von nahem an, ein einsamer Manschettenknopf auf dem Parkett ebenfalls. Er saß bei Falk am Tisch. Er hatte sich dazugesetzt wie die sich dazusetzende Selbstverständlichkeit, die er früher einmal gewesen war. Doch die alten Selbstverständlichkeiten, dachte er und nippte an seinem Wodka-Lemon, sind bekanntlich das Unselbstverständlichste von heute. Ebenso fühlte er sich nun, gefangen in der falschen Frechheit, sich so ohne weiteres zu Falk und seiner Begleitung gesetzt und solchermaßen eine sofort verfahrene Situation produziert zu haben. Falk, sein alter Klassenkamerad, hatte es seinerseits verpasst, die Begleitung und Thorsten einander vorzustellen, was diesen nur insofern störte, als er irgendein doppelt gezinktes Signal dahinter vermutete und nicht wusste, ob dieses nun für ihn oder für die Frau bestimmt war, die an Falks Seite saß wie eine namenlose Gipsfigur.

So tröpfelte ein Gespräch alter Freunde traurig dahin, gehemmter noch als das Schweigen der jungen Dame. Die Distanz zwischen ihnen, über die Jahre unmerklich gewachsen, war jetzt unübersehbar. Er konnte Falk kaum noch erkennen, so weit war er weg, hinter der weißen Flur des Tisches, das Gesicht aufgedunsen und in Ansätzen verfettet, der Blick fahrig und haltlos.

Schämte er sich jetzt für Thorsten oder wie? Thorstens soziale Kompetenz litt merklich unter der wachsenden Betrunkenheit. Er hatte kein Gefühl mehr für den Unterschied zwischen falschen, halbrichtigen und richtigen Kommentaren. Das fand er allerdings sehr angenehm. Er brauchte einen Wodka pur; er wollte spüren, wie es brennt.

Nach einem ellenlangen Schweigen sagte er: «Ich lass euch mal allein, Mädels», und stand auf, worauf Falk unwirsch «Wieso denn?» fragte und die Mundwinkel gepeinigt verzog, genau wie früher immer, wenn er in der Klasse vorlesen musste. Auch das Blut, das ihm ins Gesicht schoss, hatte dieselbe Farbe wie damals, knallrot in der ersten Sekunde und dann sofort ins Purpurne wechselnd.

«Wieso denn, wieso denn, wieso denn», wiederholte Thorsten leise lallend und ging weiter. Seine Beine trugen ihn überraschend sicher durch die bankettlangen Tischreihen. Bekannte Gesichter, verwischte Gefühle. Er lachte über eine Gruppe von Smokingträgern, die beieinanderstanden, schräg distanziert und zentripetal verkantet wie Mikadostäbchen in der lockeren Hand. Obwohl er einige von ihnen flüchtig kannte, stellte er sich vor sie hin, zeigte mit dem Finger auf die Gruppe und lachte gekünstelt, so wie sie es bei den Klassendeppen früher im Internat getan hatten.

«Jaja, der Kühnemund, jaja», sagte einer der Mikados und wollte noch etwas hinzufügen, aber da war Thorsten schon wieder weg, unterwegs zu Edwin, den er an der Bit-Tränke erblickt hatte. Auf dem Weg dorthin blickte er in den einen oder anderen Ausschnitt, sah verlockende Wölbungen, sammelte verfängliche Blicke. So viele dieser Anzugträger und Abendkleidpuppen kannte er von seiner alten Schule, doch wusste er bei den meisten schon längst nicht mehr, wie er zu ihnen stand. Einige Verbindungen aus der Zeit bei den Jesuiten hatten ihm zum Vorteil gereicht (das Trainingsprogramm in Genf etwa hätte er nie ohne die Referenzen von Malte Lüderitzens Vater bekommen), andere waren ihm nur mehr lästig, keine Seilschaften mehr, nur noch Seile, die mit jedem gewechselten Wort schwerer an seinem Hals herunterhingen.

Inzwischen erkannte Thorsten (im Allgemeinen und mit all dem Alkohol im Blut im Besonderen) immer schwerer, wer zu welcher Gruppe gehörte, wer noch von Vorteil sein und wer ignoriert werden konnte. Selbst die Sympathien ordneten sich neu, von anderen Kraftfeldern bestimmt als früher.

Satter Zynismus stand Edwin ins Gesicht geschrieben, als er sich grinsend zu Thorsten umdrehte, der ihn in den Nacken geküsst hatte. Thorsten fühlte sich in Edwins wissendem Grinsen zu Hause — «wir Jesuitenschwestern» — und umarmte ihn kurz und kumpelhaft. Edwin klopfte Thorsten den Rücken ab, als wären da noch Spuren von Schulkreide, gab ihm von seinem Whiskey zu trinken — «Pausenbrot» — und redete von irgendwelchen Shareholdern. Thorsten kniff Edwin mit Zeige- und Mittelfinger in die Wange und sagte etwas Sinnloses, das sofort erlosch.

Edwin stellte Thorsten einer typischen Bonner Blondine vor, mit Perlenohrringen, blaumatten Augen, weißen Zähnen, Burlington-Gedanken. Thorsten zog sie sofort auf die Tanzfläche und tanzte einen Friesenrock mit ihr. Es ging gut, sie war geschmeidig und wusste immer schon vor ihm, was er wollte. Einmal wäre er fast gestürzt. Da lächelte sie unsicher. Als sie ihn am Ende des Liedes stehen ließ, ging er zurück zu Edwin, der bereits vier Biere bestellt hatte. Sie exten das erste.

«Wo ist eigentlich Laura?», fragte Edwin. Thorsten machte eine uninteressierte Geste.

«Hey. Ich mag das Mädchen», sagte Edwin ernst, «lass es also.»

«Nee, klar, schon klar», versicherte Thorsten.

«Gut. Dann ist ja alles geklärt», sagte Edwin, und sie exten das zweite Bier.

Zwei weitere Blondinen gesellten sich zu ihnen. Thorsten war, eine neue Erfahrung, zu betrunken, um sie sich nackt vorzustellen. Ein Pingpong ging hin und her, aseptische Worte, leicht und weiß. Thorsten griff sich in den Schritt, ohne dass jemand es merkte, und entschuldigte sich kurz, «für junge Königstiger». Unterwegs zu den Toiletten, schon fast an der Treppe, wurde er aufgehalten. Ein riesiger Typ mit nervösen Flecken im Gesicht stellte sich ihm in den Weg und beugte sich dann wie ein Schatten über ihn.

«Ich kenne dich doch», sagte er. «Warst du nicht auch vor zwei Wochen im Cookie’s? Mit Agnes?» Sein Atem roch nach Minze. Die Flecken sahen aus wie Schuppenflechte.

«Nein», sagte Thorsten und blickte an ihm vorbei.

«Seltsam», sagte der Typ und verschwand, eine Wolke aus dichtem Minzatem hinterlassend. Thorsten fröstelte. Vor ihm kollidierte eine Laura-Ashley-Brünette mit einem Jil-Sander-Smoking. Die dazugehörigen Augen spiegelten sich interessiert ineinander. Er starrte kurz auf die Brüste und verfehlte dabei die zweite Stufe.

Und stürzte die Treppe hinunter.

Eine Traube aus dunklen Punkten hing über Laura, unheilvoll, wie festgefrorene Wespen. Ein Gewölbe dahinter, sfumato und grau. Vorher war alles schwarz gewesen, oder eher: weg. Erst schwarz, dann weg, jetzt grau. Ein Punkt, der sich in viele Punkte ausgefällt hatte. Die Punkte über ihr wurden jetzt zu Kreisen, zu Köpfen, zu Zähnen. Sie war in einer Mundhöhle und stierte auf diesen Oberkiefer aus schwarzen Zähnen, der jeden Moment zuklappen würde.

In ihr Bewusstsein sickerte hellstimmige Musik, wie ein mit zu viel Wasser gemaltes Aquarell. Etwas schmerzte. Sie erkannte Gesichter, war wohl ohnmächtig gewesen. Wie lange? Man half ihr hoch, was sie nicht wollte, doch sie konnte sich nicht wehren. «Da ist sie ja wieder», sagte jemand. Der Cousin starrte ihr ins Gesicht und rief aufgeregt: «Wir brauchen einen Arzt!»