Manche zeigten ihre Zunge unbewusst in Augenblicken großer Anspannung und Konzentration, etwa beim Elfmeterschießen, beim handschriftlichen Abfassen von Briefen oder beim Bemalen von Wänden. Manche zeigten sie reflexhaft, wenn sie einen dreckigen Witz hörten, klemmten sie zwischen die gebleckten Zähne und lachten verkniffen. Manche zeigten sie nie. Das waren die Zungenverstecker.
Obwohl es recht sauber aussah, herrschte ein unsäglicher Gestank auf der Männertoilette. Es roch nach ätzendem Urin und Flatulenzen, die jahrelang in einer abgelegenen Ecke eines exhumierten, dann vergessenen Magens Dunkelverstecken gespielt haben mussten; nach säuerlichem Schweiß, nach dunkler Feuchtigkeit und altem, faulem WC-Stein, es roch krank, schon nicht mehr nach Mensch, aber auch nicht nach Tier. Es roch nach Tod, nach der Art Tod, aus der schon wieder Leben wuselt.
Thorsten stand in der kleinen Schlange vor den beiden Kabinen und versuchte zu atmen, ohne diesen Geruch zu tief in sich hinein zu lassen. Er atmete halb durch den Mund, halb durch die Nase, so oberflächlich wie Laura, wenn sie ihre angeblichen Anfälle hatte. Thorsten juckte es in der Nase, während er mit einem Typen, der einige Klassen unter ihm gewesen war, bei möglichst geringem Luftverbrauch über den Niedergang der amerikanischen Ivy-League-Universitäten redete. Lauras Bild, ihre ewig unzufriedene Fratze, blinkte vor seinem inneren Auge auf. Er musste niesen und ekelte sich sofort.
Neben ihm stand eine Witzfigur, ein abgewrackter, geschminkter Kerl mit lächerlicher Matrosenmütze, doch in tadellosem Smoking. Er sprach Thorsten immer wieder von der Seite an, redete Rotwelsch oder irgendeinen Drogencode, den Thorsten nicht verstand, der ihm fremd war. Als es ihm zu viel wurde, fragte Thorsten den Matrosen, was er eigentlich hier verloren habe. Da torkelte der Matrose weg, die schlaffe Rose in seinem Knopfloch wackelte traurig.
Vor dem fleckenlosen Spiegel stand ein anderer Typ, kämmte sich und zog eine groteske Grimasse, mit gespitzten Lippen und bösem Blick. Endlich öffnete sich eine Kabine, ein junger Schwarzer mit wasserstoffblondem Jheri-Curl-Seitenscheitel trat heraus und schnalzte laut mit der Zunge. Würdelos, dachte Thorsten. Sie müssen sich ihren Quotenpenner und ihren Quotenneger halten, dachte er, wie erbauliche Sklaven, wie Pausenfreaks, und das Demütigendste daran ist, dass der Quotenpenner und der Quotenneger auch noch mitspielen. Es ist alles so würdelos. Er betrat die Kabine, hob angewidert die Klobrille, die dreckig sein musste, obwohl sie nicht so aussah, aber der Gestank.
Thorsten urinierte schon seit einigen Jahren nicht mehr in Pissoirs. Das ging nicht. Er hatte eine — Edwin nannte es so — Pinkelhemmung. Er konnte nicht neben anderen Männern urinieren. Irgendetwas klickte in ihm, und es kam kein Tropfen. Das Wunderliche war, dass es keinesfalls mit männlichem Penisneid oder Scham zu tun hatte. Er hatte unter vielen Männerduschen gestanden, im Internat, in Fußballvereinen. Nein, es war ein ganz inhaltsloser Tic. Es hatte etwas mit dem Schweigen und der Erwartung zu tun. War er allein, lief es sofort.
Ein Vorteil der Kabinen war auch, dass man, während man unten Flüssigkeit abließ, oben gleichzeitig Alkohol nachschütten konnte, ohne dass es auffiel. Das hatte Thorsten getan, mit einem Kümmerling aus seiner Innentasche. Er trug dort ein kleines Sortiment harter Zwischenalkoholika bei sich, für alle Fälle. Nun war ihm der süßliche Weinbrand beim Hinunterschlucken teilweise in die Luftröhre geraten, und noch während sich seine Blase entleerte, brach er in einen Hustenanfall aus. Es schüttelte ihn, drückte den zuvor getrunkenen und nun mit Magensäure angereicherten Wodka Lemon zurück in die Mundhöhle. Der Versuch, das Ganze wieder hinunterzuschlucken, hatte einen noch stärkeren Würgreiz zur Folge. Der Gestank tat sein Übriges. Draußen quittierten die Wartenden sein Röcheln mit Gelächter. Er steckte sich einen Finger in den Hals und setzte dem Hin und Her ein Ende. Das Lachen verstummte.
Vor dem Spiegel machte er sich frisch. Im rechten Auge waren Äderchen geplatzt. Seine Zunge lag im Mund wie eine pelzige Raupe. Die Nase war zu. Er spürte einen angenehmen Alkoholdruck gegen die Hinterseite seines Stirnbeins pochen. Ihm schwindelte leicht; er fühlte sich glücklich. Er trank einen Jägermeister, um den Mund zu desinfizieren und im Magen für Ordnung zu sorgen. Dann putzte er sich die Nase und wusch sich nochmals das Gesicht.
Ein Schatten tauchte auf, war gleich hinter ihm, atmete in seinen Nacken. Zu nah, aufdringlich. Thorsten wollte sich nicht umdrehen, wollte warten, bis der Schatten verschwand. Der Schatten aber kam noch näher.
«Ach nee, der Manager», sagte der Schatten leise.
Thorsten blickte in den Spiegel, er erkannte nicht, wer da sprach.
«Geht’s gut? Darf ich auch so einen Kurzen? Damit meine ich nicht Ihr Geschlecht.» Er lachte. «Entschuldigung. Ich bin betrunken. Ich trinke sonst nicht.»
Die Stimme klang stockend, aber selbstbewusst. Thorsten sah Haare wie gefrorenes Feuer. Er sagte leise: «Mabuse.»
«Mabuse?», setzte der Schatten nach. «Sie kennen Fritz Lang? Natürlich, klar. Aber kennen Sie auch Fritz Murnau, Herr Kühnemund? Das dachte ich mir. Wieso eigentlich Mabuse?»
Thorsten drehte sich um. Da stand der Journalist, im Jackett, ohne Krawatte, mit schmutzigem Kragen. Thorsten brauchte einen Augenblick, um das Gesicht scharf zu kriegen. Ja, das war er. Der, wie hieß er, der –
«Taue», sagte Taue, «Sie erinnern sich? Ich arbeite jetzt für Sie.»
«Ja», sagte Thorsten.
«Ja?», fragte Taue.
«Ja», sagte Thorsten. Er gab sich einen Ruck. «Und außerdem —»
«Außerdem?», fragte Taue.
Lass mich doch mal aussprechen, dachte Thorsten, lass mich doch in Ruhe, du —
«Ja, mir war schon damals, also — bei unserem ersten Treffen so», sagte Thorsten, «als würden wir uns kennen. Aber ich wusste nicht —»
«Von der Schule», unterbrach Taue ihn. «Ich war einige Klassen unter Ihnen. Ein Klecksi.»
«Ach. Jetzt, ja. Ich erinnere mich dunkel.» Pause.
«Ah, jetzt, ja, eine Insel», sagte Taue und wusch sich die Hände. «Sie hatten auch mal —»
«Sollen wir uns nicht duzen?», unterbrach Thorsten. «Das ist doch albern sonst. Wenn wir —»
«Sie sind älter. Sie müssen es anbieten.»
«Wenn das so ist, also: Thorsten.»
«Magnus», sagte Taue.
Sie schüttelten einander die Hände. Taues Händedruck war weder stark noch schwach, eher kaum spürbar. Seine Hand passte sich Thorstens Hand einfach an. Dann das Geräusch von Papiertüchern, die in schneller Abfolge dem Spender entnommen werden.
«Also — Thorsten — gibst du einen aus — Thorsten?»
Kurz darauf saßen sie im Gang auf gepolsterten Stühlen und tranken Bier und Jägermeister durcheinander.
«Du hattest mal was mit meiner Tante», sagte Taue lächelnd. «Aber nur was ganz Kleines.»
«So. Hatte ich das.»
«Ja. Hattest du», sagte Taue und wischte sich über das speckige, schmale Gesicht.
«Aha?»
«Ja», sagte Magnus, «aber nicht der Rede wert.»
«Wie hieß sie denn?»
«Sibylle. Du wirst dich nicht an sie erinnern, hat sie gesagt.»
«Stimmt», sagte Thorsten. «Ich erinnere mich nicht.»
Schon war er wieder genervt von Taues gehemmter und zugleich direkter Art. Er klang, als habe er sich den Mut zur Unverfrorenheit nur antrainiert, als treibe er sich ständig willentlich zum Übersprung an. Thorsten kannte entsprechende Techniken aus den Verhaltensseminaren. Um seinem Unmut etwas Positives entgegenzusetzen, sagte er rasch irgendetwas. «Kennst du diesen speziellen Drink?», fragte er und schüttete seinen Jägermeister in das Bier.