«Nein», sagte Magnus und tat es ihm gleich. «Gibt es den überhaupt?»
«Offensichtlich», sagte Thorsten und hob sein Glas, «hier ist er doch.»
«Tatsächlich», sagte Magnus, «da ist er ja.»
Thorsten exte die Suppe. Magnus tat es ihm gleich.
«Krass», sagte Magnus. «Ich trinke ja sonst nicht.»
«Du hattest es erwähnt», sagte Thorsten.
«Ich bin nicht wie ihr», sagte Magnus.
«Was heißt das», sagte Thorsten.
«Das, was es heißt», grinste Magnus.
«Wie sind wir denn», fragte Thorsten.
«Dekadente, reiche Alkoholiker», sagte Magnus. «Und konservativ bis ins Mark. Und degeneriert bis zum Gehtnichtmehr.»
Thorsten lachte auf, aber sein Lachen kam ihm heller vor als sonst, fast effeminiert.
«So. Sind wir also», sagte er. «Und wer sind wir?»
«Na, ihr alle hier», sagte Magnus und beschrieb mit seinem Jägerbier einen Kreis. «Ihr vom Canisius. Ihr in den Clubs. Ihr in der Wirtschaft.»
«Soweit ich das sehe», sagte Thorsten und stellte fest, dass er wieder Gefallen an dem Kerl fand, «soweit ich sehe, bist auch du in diesem Club, warst auch du auf dem Canisius, arbeitest auch du für die Wirtschaft. Entweder, es gibt uns gar nicht, oder aber: Du gehörst zu uns.» Diese Spitzfindigkeit gefiel ihm so gut, dass er sich einen kleinen Feigling aus der Jackentasche fischte, obwohl er kleine Feiglinge nicht mochte. Aber es war nichts anderes mehr übrig.
«Nein», sagte Magnus, «ich bin nur eine Worthure, die sich verkauft für Geld. In mir und in der Zukunft, da sieht es anders aus. Das wird irgendwann durchbrechen. Dann sieht das alles hier», er nickte in die Tanzgesellschaft, «ganz anders aus.»
Thorsten schüttelte sich. Der Feigling war so süßlich, dass er an eiternde Honigwaben denken musste.
«Also willst du mir sagen, dass du eigentlich jemand anderes bist als der, der hier sitzt?»
«Ich weiß, dass es lächerlich klingt», sagte Magnus. «Aber ja, das will ich sagen.»
«Das ist die große Illusion. Alle denken, sie würden so ganz anders wahrgenommen, als wie sie in Wirklichkeit sind», sagte Thorsten. «Eigentlich sind wir anders. Du gibst die Worthure, bist aber eigentlich ein radikaler Geist. Ich bin ein Manager, aber eigentlich ein guter Mensch. Doch das stimmt nicht. Ich weiß, wie ich bin. Ich bin genauso, wie du mich siehst.»
«Ich bin beeindruckt. Apropos: Dich habe ich schon als Junge beobachtet», sagte Magnus. «In deiner Chevignon-Jacke, mit der Frostfrisur. Gegelter Mittelscheitel, unter null.»
Thorsten wurde unruhig. Vielleicht brauchte er noch ein Bier.
«Beobachtet?»
«Du weißt doch, wie das ist in der Schule», sagte Magnus. «Als Unterstufler hat man so große Augen und begafft die Abiturienten wie etwas Extraterrestrisches. Bartwuchs, Frauen, Aftershave. Das verliert sich mit der Zeit, und später ist man selbst ein begafftes Objekt, von Kinderaugen seziert als Exemplar der Erwachsenenwelt. Und merkt es nicht einmal.»
«Willst du auch noch eins?», fragte Thorsten.
«Was?»
«Ein Bier.»
«Nein», sagte Magnus. «Mir ist eh schon übel.»
Thorsten lachte.
«Alkohol ist die Schmiere dieser Gesellschaft», sagte Magnus. «Schau sie dir nur an! Saufen sich zu bis oben hin und verprassen Vaters Kohle, weil es letztendlich so traurig ist, seine Werte nicht verprassen zu können.»
Auf seiner Stirn trat eine wurmdicke Ader hervor. Thorsten beobachtete ihn von der Seite und wusste nicht, ob seine Wahrnehmung inzwischen so verdreht war oder ob der Typ in seinem kurzen Redewahn tatsächlich anschwoll.
«Ein einfaches Leben ist das bei euch oben», sagte Magnus, «auch wenn Anorexie und Alkoholismus um sich greifen. Klar, man bekommt den Job im Unternehmen des Vaterfreundes und die Golfclubmitgliedschaft, zumindest wenn man nicht zu sehr über die Stränge schlägt. Auch eine Frau kriegt jeder ab, man muss sich nur tief genug hineinverstricken in den großen Inzest. Man muss nur dauernd durch Deutschland jetten, immer wieder dieselben Leute sehen, immer dieselben Sprüche ablassen, dieselben Codes aneinander abtasten, denselben Lacrosse spielen, dieselben Tänze tanzen, dieselben Leutchen ficken. Manchmal springt ein Kind dabei raus, das kommt dann nach Salem, Louisenlund oder ins Internat Wald und wird abgerichtet, bis es vor Glück kaum mehr laufen kann. Das ist das Problem, was diese Leute natürlich in keinster Weise denken zu haben. Warum auch, denen geht’s doch gut, oder? Denen geht’s doch super.»
Während er redete, war die Ader auf seiner Stirn erst weiter angeschwollen und dann wieder verschwunden. Obwohl es so schien, als ob Magnus etwas schon oft Gesagtes zum x-ten Mal vortrug, war seine Wut echt. Thorsten spürte einen Schluckauf heraufziehen.
«Ein Rucki-Zucki geht durchs Land. Aber das ist alles bald vorbei», sagte Magnus und blickte ihm fröhlich ins Gesicht.
«Was meinst du», fragte Thorsten.
«Ich beobachte dich wirklich schon lange», sagte Magnus. Sein Blick verwässerte.
«Mich?», sagte Thorsten und hickste. Er meinte sich verhört zu haben.
«Ja», sagte Magnus. «Aber keine Angst.»
Thorsten hickste. «Und? Was beobachtest du?» Er wollte die Antwort gar nicht wissen.
«Ein andermal», sagte Magnus, als würde er das Unbehagen in Thorstens Gesicht genau sehen, klopfte ihm auf die Schulter und verschwand. Thorsten war verwirrt, aber gelassen. Er wusste, er würde so viel von dem hier, von dem Gesagten, Getanzten, Getanen nachher wieder vergessen haben. Und das fühlte sich gut an.
Endlich tauchte die Popjournalistin auf. Noch im Taxi hatte er sie angerufen. Von irgendeinem Gig ganz aufgekratzt, flüsterte sie etwas in Thorstens Ohr und leckte dann kurz hinein mit ihrer kleinen, rauen Zunge. Er spürte, wie er hart wurde. Das Kamerateam packte endlich ein.
Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich, durch verwirrende, wummernde Katakomben. Sie landeten in einem dunklen Raum. Dort waren Männer zugange. Sie öffnete seine Hose und rieb ihn. Ein Mann kam auf sie zu. Thorsten war es egal. Er trank seinen Gin Tonic aus und warf das Glas weg. Der Mann kam noch näher, starrte auf Thorstens Penis und rieb sich selbst dabei. Die Popjournalistin lächelte und drehte sich um und hob ihren Rock und bückte sich.
Zwei Stunden später fand sich Thorsten in einem Tunnel gefangen. Er suchte seine Hose verstohlen nach Flecken ab. Arbeiter fuhren zu ihrer Schicht, sie sahen ihn abschätzig an. Der Tunnel nahm kein Ende, die U-Bahn schien ewig zu fahren. Vielleicht eilte die Station der Bahn ja voraus wie die Schildkröte Zenons Läufer. Vielleicht wäre es unlogisch, anzukommen.
Thorsten hatte sein Portemonnaie verloren. Er brauchte etwas zu trinken, er dehydrierte. Die Schlagzeilen auf dem U-Bahn-Bildschirm tanzten vor seinen Augen. Er spürte, wie sein Körper im Zeitraffer austrocknete. Aber er hatte kein Geld. Am Rosa-Luxemburg-Platz platzte er aus dem Waggon, stolperte und stürzte hin. Einen vorbeigehenden Mann bettelte er um Geld an, für ein Apfelsafttütchen aus dem Kiosk. Fünfzig Cent? Der Mann ignorierte ihn.
Dann übergab er sich, fast trocken, auf den Boden der U-Bahn-Station. Er schrie das Plastik an, die Kotze sah aus wie auseinanderbröckelnder Bauschaum. Ein anderer Mann gab ihm unaufgefordert einen Euro.
Den Apfelsaft, den Thorsten sich davon kaufte, erbrach er sofort wieder, als er die Treppe hochstieg. Schade, dachte er und wankte weiter in ein stadtbekanntes Nachtcafé und dort zur Toilette, um aus dem Wasserhahn zu trinken. Das Leitungswasser löschte den Brand. Dafür erfasste sofort eine unheimliche Müdigkeit seinen Körper. Im Café tanzte er noch ein wenig; sah nicht mehr, wer ihm gegenüberstand; reckte den Zeigefinger in die Höhe.
Zwischen den letzten sich findenden Paaren und ein paar düsteren Einzelgängern schlief er schließlich in einer dunklen Ecke ein, vielleicht beobachtet, vielleicht unsichtbar, während eine zärtliche Männerstimme ihm noch einen Ratschlag mitgab: Watch out, the world’s behind you. Ja, murmelte Thorsten, jaja. Ich weiß schon Bescheid.