«Nein, das hast du nicht.»
Ein Brötchen wurde aufgeschnitten, mit Butter bestrichen, liegengelassen.
«Nein.»
«Doch, habe ich.»
«Nein.»
Schweigen.
«Ich habe mir fast den Schädel aufgeschlagen. Ich war ohnmächtig, mir ging es hundsmiserabel. Derweil hast du irgendwo deinen Spaß gehabt. Du bist nie da, wenn ich dich brauche. Du bist übrigens auch niemals da, wenn ich dich nicht brauche. Du bist gar nicht da. Wo bist du?»
«Hör auf. So ein Pathos.»
«Konkret, also: Wo warst du später in der Nacht? Wo warst du bis in den Morgen?»
«Ich war angepisst, dass du einfach so abgehauen bist. Da bin ich mit einem alten Schulfreund, kennst du nicht, in so einen Schwulenclub.»
«In einen Schwulenclub.»
«Na ja, Technoclub. Aber es waren viele Schwule da. Was weiß ich, kenn mich da nicht aus.»
Sein Kopf dröhnte. Er war leicht überdreht, der Alkohol wirkte noch immer nach. Es war vier Uhr nachmittags.
«Und das soll ich dir glauben. Du, in einem Schwulenclub.»
«Es war kein Schwulenclub. Und wennschon!»
«Und wo war er, der Technoschwulenclub?»
«Am Ostkreuz, oder weiter im Osten, irgendwo. Dann bin ich noch ins Burger, weil ich kein Geld mehr hatte und was trinken musste. Da bin ich eingeschlafen.»
«Du hast dich nicht mehr unter Kontrolle, Thorsten. So geht das nicht weiter.»
Laura hatte aufgeräumt und geputzt. Die parfümierten Dämpfe der Reinigungsmittel lagen noch in der Luft. Thorstens Kopf schmerzte.
«Wie viel Geld war im Portemonnaie? Und was noch alles?»
«Schrei nicht so rum. Ich verstehe dich auch so.»
«Mann!»
Schweigen.
«Heute Abend trinkst du nichts.»
«Du machst mir keine Vorschriften, Laura.»
«Du stinkst erbärmlich aus dem Mund.»
Schweigen.
«Hier.»
Sie zeigte ihm die Wunde an ihrem Hinterkopf: verkrustetes Blut zwischen glänzenden Haaren.
«Das tut mir leid. Aber ich kann auch nichts dafür. Musst ja nicht mit einem Typen tanzen, der es nicht kann.»
Sie blickte ihn an, mit verständnisleeren Augen, und schüttelte den Kopf.
«Ist gut, Laura. Ich trinke heute nichts. Und die ganze Woche nichts, dir zuliebe. Obwohl es Quatsch ist. Ich kann jederzeit aufhören. Aber das ist wie Ferien von mir selbst. Ich brauche das einfach manchmal. Habe gerade eine Menge Stress in der Arbeit.»
«Den Stress bewältigt man besser mit klarem Kopf. Und nicht mit Ferien von sich selbst», sagte Laura.
«Keks.»
«Ja.»
«Es tut mir leid, der Abend ist total schiefgegangen.»
«Ja.»
«Nimmst du meine Entschuldigung an?» Er strich ihr eine Strähne aus der Stirn. Seine Finger zitterten.
«Welche Entschuldigung?»
Am Abend war Thorsten unruhig. Nervosität kroch in ihm hoch. Er versuchte, dieses und jenes zu lesen, aber es gelang nicht. Er schaltete den Fernseher ein, dann aus, dann wieder ein. Die Programme ödeten ihn an. Er blieb bei einer Nazi-Dokumentation hängen, in der Zeitzeugen mit kaum verstecktem Stolz von ihren Erlebnissen berichteten. Es war ihm bald auch das zu langweilig. Er kontrollierte die Aktienkurse im Videotext und wunderte sich, dass es Videotext überhaupt noch gab. Er wollte Musik anmachen, wusste aber nicht, worauf er Lust hatte. Er ging in der Wohnung herum, mit einem Song im Kopf, den er keiner Band und keinem Genre zuordnen konnte. Er öffnete und schloss das Fenster, machte sich Kaffee. Als er zwei Tassen getrunken hatte, befiel ihn ein Würgreiz. Er trank Wasser. Seine Laune wurde zunehmend übler. Laura kam zurück. Sie sahen sich eine DVD an und aßen Tacos. Thorsten konnte an nichts anderes denken als an Wodka. Wodka verursacht angeblich keinen Mundgeruch.
In der Nacht blieb der Schlaf aus. Thorsten wälzte sich hin und her. Hass gegen Laura stieg in ihm hoch. Schweiß trat ihm auf die Stirn, auf die Oberlippe. Es war zu heiß unter der gemeinsamen Decke, dann zu kalt ohne sie. Sein T-Shirt war auf einmal nass. Er trat nach Laura, als sie zu schnarchen begann. Sie blaffte «Was soll’n das?» und schlief wieder ein. Er könnte ihr in den Kopf treten, dachte er, morgen würde sie es wieder verziehen haben — so wie sie alles zu verzeihen schien Tag für Tag, Reboot jeden Morgen, eine leere Festplatte, ein neues, ach so moralisches Leben.
Er stand auf und aß eine Banane und trank Wasser.
Er ging ins Internet, checkte die innerbetrieblichen Stellenangebote und die Aktienkurse, sah sich ein paar Pornoclips an und masturbierte ohne Erfolg. Um sechs schlief er ein und wachte zwei Stunden später wieder auf, erschrocken über einen Albtraum. Für gewöhnlich konnte er sich an keine Träume erinnern. Jetzt traf ihn dieser Albtraum, in dem es um einen Unfall ging, mit einer ungeheuerlichen Wucht.
Nachdem er im Büro eine volle Tasse Kaffee über seine Tastatur verschüttet und den Haustechniker verständigt hatte, ging er aufs Klo (Lichtquader strukturierten den Gang, er grüßte, wen er kannte) und trank dort einen Flachmann mit Wodka leer. Danach warf er drei Fisherman’s Friend ein. Nun ging es besser, und er machte sich an die Arbeit.
Der Ölpreis hatte wieder angezogen. Die Pächter wurden zunehmend unzufriedener. Die Konkurrenz im Unternehmen verschärfte sich. Die Kunden blieben aus, draußen an der Front, wechselten zu den Billiganbietern. Etwas musste geschehen.
Zehn Uhr: Meeting Kundenbindung. Deine Haare stehen wie gegossener Zement — dank Haarkur, Brisk und L’Oreal. Zwölf Uhr: Ortstermin Bornholmer Straße. Die Neonlichter des Shopbereichs wollen spröde Stellen im Scheitel offenlegen. Aber du hast schon nachgegelt. Die Haarkur wirkt. Dreizehn Uhr: Fototermin mit der Werbeabteilung. Ein Stylist ist am Start. Er blickt dich an mit der Gier des Künstlers. Nicht in die Augen blickt er, sondern schräg darüber, auf dein Haar. Aber du allein weißt, was gut für dein Haar ist. Du weißt, wie die blonden Strähnen genau in die richtige Form zwischen Strictly Business und Out of Bed zu bringen sind — und ziehst dich kurz mit Haarwachs und Jägermeister aufs Klo zurück. Der Stylist kann sich inzwischen an deiner Chefin vergehen, deren Augenlider nervös zittern. Dreizehn Uhr dreißig: Du isst mit der ganzen Shopabteilung zu Mittag. Ein Haar fällt dir in die Lasagne. Fünfzehn Uhr: Auswertung des Test-Rollouts im Bezirk 15, Thüringen. Du rechnest die durch die Shopoptimierungen bewirkte Absatzsteigerung aus, es ist nicht so berauschend, zerzaust dir unbewusst die Mähne dabei und streichst sie dann wieder glatt. Achtzehn Uhr. Zu Hause. Mit einem Frottee-Handtuch rubbelst du dir die Frisur wild und fixierst das Ergebnis, indem du einen Strahl Haarspray knapp über deinem Kopf in die Luft entlässt und kurz hochspringst. Dann gehst du in die Küche und nimmst den ersten Wodka-Bull des Abends, um fit zu werden. Die Frisur steht. Zwanzig Uhr: Deine Geliebte zerzaust dir das Haar. Zweiundzwanzig Uhr: Du stylst es wieder hin. Dreiundzwanzig Uhr: Deine Freundin reißt an deinem Haar und zerzaust es erneut.
So bleibt es bis zum nächsten Morgen.
Zehn Uhr. Das Meeting betraf das neue Kundenbindungsprogramm der Konkurrenz. SHACK hatte jetzt SMARTSHOP, und es stach BUY&GET aus, da SHACK sehr viel mehr Bonuspartner aufweisen konnte: McDonald’s, Cinemaxx, Otto Versand, um nur einige zu nennen. Herr Peters, mürrisch und gutaussehend wie Robert de Niro, sagte, SMARTSHOP imitiere BUY&GET — aber das war offensichtlich unrichtig, denn international gab es SMARTSHOP schon Jahre länger als BUY&GET. Thorsten wollte darauf hinweisen, dass doch eher BUY&GET wie ein Ableger von SMARTSHOP aussehe — wenn man vom Katalog- und Plakatdesign absehe, das bei SMARTSHOP zwar diesen Fünfziger-Jahre-Biedersinn mit Familie und Begonienkästen versprühe, während BUY&GET auf stylishe Coolness und Purismus gesetzt habe. Dann ließ er es aber, denn es war ihm letztendlich egal; er schaute aus dem Fenster, wo das Ensemble von Kränen den Blick versperrte, und zog gierig an seiner Zigarette.