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«Ich?»

«Ja. Ich sage es nur. Ich bin nicht das Problem.»

«Was meinst du?»

«Das Problem sind die Leute, die es riechen und nichts sagen. Verstehst du?»

«Ich glaube schon.» Thorstens Kopf war plötzlich wieder leer, ein Resonanzraum der widerhallenden Sätze.

«Ich sag’s nur.»

Françoise näherte sich.

«Und wie war das noch mit den Argumenten für ‹Weniger ist mehr›?»

«Was?»

«Sie sagten etwas von Artikeln, die soundsoviel Prozent des Gesamtumsatzes …?»

«Richtig», sagte Thorsten. Sein Rücken brannte, Schweiß trat auf seine Stirn. «Im Durchschnitt bringen etwa dreißig Prozent der Artikel schon über achtzig Prozent des Umsatzes. Noch eindrucksvoller: Allein die besten sechs Artikel sorgen schon für fünfzig Prozent des Umsatzes.»

Er versuchte so zu reden, dass Françoise seinen Atem nicht riechen konnte.

«Wir können da eine schöne Grafik bauen. Grundaussage: Es gibt ein relativ kleines Kernsortiment, das den Löwenanteil am Umsatz jeder Station generiert. Diese Erkenntnis nun wird in der zweiten Optimierungsstufe noch konsequenter als bisher in die Tat umgesetzt …»

Dreizehn Uhr. Klick. «Nehmen Sie bitte die Tiefkühlpizzen in die Hand? Und die Dame das Stoffherz? Sie davor bitte die Ferrero Küsschen?» Ein Fotograf mit Beethoventolle dirigierte. Geheime, stille Machtkämpfe wurden ausgetragen, wer im Vordergrund, wer im Hintergrund stehen würde auf dem Teambild für WELCOME. Thorsten ließ sich nach hinten abdrängen.

«Soll ich die Sixpacks so halten? Und auch die Zigarettenstangen? Luckys oder Marlboro? Und lächeln! Lächeln? Brauchen Sie uns doch nicht zu sagen, wir strahlen von innen. Und zwar twentyfour-seven, ha, ha.» Klick.

Dreizehn Uhr dreißig. «Die Deutschen sind so», sagte Françoise, die französische Jüdin. Ihre sternenförmige Brosche am Revers funkelte.

«Keiner traut sich etwas. Wenn ich einen Witz mache, schauen sie mich an, als sei ich ein Alien!»

Sie gluckste und verzog das Gesicht.

«Heute», sagte sie, «habe ich Wuhlstätter gesehen und gesagt, die Stimmung ist ja toll hier, da kann ich ja gleich deportiert werden. Den Stern» — sie deutete auf ihre Brosche — «trage ich ja bereits. Da ist dem fast die Kinnlade abgefallen!»

Thorsten lachte in seine Lasagne, aber nicht stark. Er hatte Herzrasen und Angst, er könnte kollabieren.

Fünfzehn Uhr. Zitternis und Kaugummi. Auswertung Thüringen: Es könnte besser sein. Die Kräne draußen wankten hin und her. Die Zahlen und Tabellen tanzten. Mode kam hinzu und redete ohne Unterlass.

«Da sind auch noch andere Tabellen, hier», sagte er, «wurden die vom Bezirksleiter bestätigt?»

Schraffierte Balken und aufgeschnittene Prozentkuchen waberten vor Thorstens Gesichtsfeld. Er hangelte sich von Spalte zu Spalte und rutschte dann, leicht schwindlig, in Spiralen die Zeilen hinab. Er nahm Mundgeruch wahr, der sich aus Zigarre, Whiskey, Schnittlauch und etwas Viertem, sehr Altem zusammensetzte. Er wusste nicht, woher das kam, Mode war ein ausgewiesener Alkoholgegner und Nichtraucher. Als Thorsten die Graphen weiter anstarrte und Modes verwachsene Finger mit der wuchernden, beigen Hornhaut darüberwischten, schienen sich die Worte in Thorstens Hinterkopf mit den fröhlich permutierenden Tabellen zu vermischen; die Tabellen bildeten zusammen mit Modes Gerede und Gelache und dem rosa Businessrauschen von allen Seiten ein unleserliches, sich ständig wandelndes und verschiebendes Muster, das in seinem Kopf zu wuchern begann, halb Paisley, halb Hirnwindung, eine Wurzelwelle — und das Urmuster verästelte sich in andere Muster, die seine Form in sich aufhoben oder zerstörten und immer weiter schwer nach unten wuchsen … die niemals aufhörten, unendlich offen waren … ihre Form ein Wabern … und der Monitor absorbierte das Licht … sein Magen drehte sich um … es roch nach vergorenem Honig … das Licht verschwand im Licht …

«Alles in Ordnung, Herr Kühnemund?»

«Ja. Ja, ja. Wissen Sie, die Nachricht erreichte mich erst gestern.»

«Welche Nachricht?»

«Ich werde Vater.»

«Ach? Das ist doch ein Grund zur Freude!»

«Ich freue mich auch wahnsinnig. Es muss nur erst noch verdaut werden. Es kam überraschend.»

«Ich kenne das, klar. Aber herzlichen Glückwunsch.»

«Danke. Jedenfalls, was Erfurt angeht, hier die Station August-Straße, da hat jetzt eine PKN-Orlen-Station in unmittelbarer Nähe aufgemacht, deshalb wohl die miese Bilanz …»

Achtzehn Uhr. Alles wird gelöscht, das Brennen, die Panik, der Durst. Langsam, im Takt der Musik, nimmst du die ersten Schlucke. Du hast dir einen Kopfhörer aufgezogen, um die Musik so laut wie noch nie zu hören. Es schmerzt in den Ohren, das Trommelfell vibriert mit. Du trinkst schneller. Im Magen macht sich ein flaches Ziehen bemerkbar. Du trinkst. Langsam wird es freier, lockerer hinter der Stirn. Du trinkst schneller. Das Herz pumpt Erleichterung in die Glieder. Ein Stich in der Leber, da? Ein Ziehen, altbekannt. Du trinkst. Das Ziehen ist vom Magen in die Leber gezogen, denkst du und trinkst. Der Magen fühlt sich jetzt geordnet an. Gut. Noch ein Schluck. Jetzt nickst du zum Takt. Du kannst spüren, wie sich die Neuronen umpolen, wie du das wahre Leben betrittst. Dein Blick verliert sein Bohrendes. Er wird freier, ist nicht mehr fixiert. Dein Blick erholt sich von der Herrschaft der Objekte und Produkte und kann einfach sein, ohne sich auf etwas richten zu müssen. Du drehst die Musik lauter auf, ziehst den Stöpsel des Kopfhörers aus der Anlage. Die Wohnung erzittert. Grace Jones singt. Es gefällt dir, und du trinkst. Alles kann leicht sein. Jetzt durchatmen, die Trinkgeschwindigkeit erhöhen, nippen, wippen. Noch ein Schluck, noch ein Drink, schnell zum Kühlschrank. Eiswürfel, Mischung, Wirkung vertiefen. Nachspülen mit Bier. Damm, damm, dammm. Die Musik ist so gut, dass es dir kalt den Rücken runterläuft. Was ein Gefühl! Gänsehaut auf den Armen, auf den Schulterblättern. Bitte nochmal! Du skippst zurück, dasselbe Lied, mit mehr Alkohol. Die Wirkung ist nicht mehr dieselbe, aber trotzdem nicht zu verachten. Du trinkst. Ja. Du schaust auf die Uhr. Die Wohnung zittert. Grace Jones singt. Das Ziehen ist verschwunden.

Du kommst wieder zu dir.

Zwanzig Uhr. Strecken, ziehen, stoßen. Kratzen, nichts spüren, heftiger stoßen. Gegen eine Fleischwand, die einstürzen muss, endlich, bitte.

Zweiundzwanzig Uhr. «Denk nicht an die Zukunft», sagte Thorsten und zog sich an. «Ich tue es nicht.»

«Ich auch nicht», sagte Ella, «verschätz dich nicht.»

Dreiundzwanzig Uhr. Sie schliefen miteinander, obwohl Thorsten kaum noch konnte. Aber das sagte er Laura nicht. Sie war ebenfalls betrunken von einem Stiftungsessen heimgekehrt. Wenn sie einmal trank, trank sie viel. Wütend riss sie an seinen Haaren, und er wusste nicht mehr, wer oder was er war. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass gerade die zweiten und dritten Orgasmen die besten sind. Es bewies sich auch heute. Er schlief noch in ihr ein, und sie sofort danach.

«Es ist sehr wichtig, dass wir den Atem nicht mit dem Willen steuern. Unser Atem wird durch das Atemzentrum selbstständig geführt. Und nun stellen Sie sich bitte vor, Sie stehen auf einer kleinen Brücke über einem kleinen Bach. Der dahinfließende Bach ist Ihr dahinströmendes Bewusstsein. Die Blätter, die Sie auf dem Wasser treiben sehen, sind die Gedanken in Ihrem Bewusstsein. Machen Sie es mit Ihren Gedanken wie mit den Blättern auf dem Bach. Nehmen Sie die Blätter wahr: Das ist ein gelbes Blatt. Das ist ein gezacktes Blatt. Da ein grünes. Und lassen Sie sie wegfließen. Machen Sie es genauso mit Ihren Gedanken. Nehmen Sie Ihre Gedanken wahr: Jetzt denke ich wieder an das, was vorhin war. Jetzt denke ich an das, was ich nachher tun werde. Ich wünsche mir dieses, ich möchte jenes machen. Nehmen Sie diese Gedanken wahr — und lassen Sie sie los. Gedanken, die in unser Bewusstsein treten, sind etwas Natürliches. Wichtig ist, dass sie nicht durcheinander, nicht chaotisch unser Bewusstsein überschwemmen. Mit der Beruhigung des sympathischen Nervensystems durch die Normalisierung der Atmung stellt sich die Ordnung in unseren Gedanken wieder ein. Die Gedanken kommen nun langsamer, und wir tun unseren Teil dazu, indem wir sie wahrnehmen und loslassen. Dieses Loslassen der Gedanken ist etwas sehr Wichtiges. Wir können es lernen. Dadurch werden wir im Alltag weniger von grübelnden, sorgenden Gedanken geplagt. Unser Bewusstsein wird freier. Versuchen Sie es: Nehmen Sie nun Ihre Gedanken wahr. Nehmen Sie sie wahr, wie sie in das Bewusstsein treten — und lassen Sie sie los.»