Bilder schossen auf sie ein. Bilder von Kriegsgerät, das sich durch Moorlandschaften pflügt, von Rammböcken, die Burgtore zerfetzen, dahinter Prinzessinnen in fiebriger Erwartung. Weg, weg, weg.
Ihre Münder waren wie Kolibris, ihre Hände wie die Hände indischer Tänzerinnen, schoss es auf, und Laura sehnte sich nach einem Diktiergerät, um hineinzuschreien. Es ist ja wirklich so, dass man den Schmerz der Liebe spürt in der Brust wie Lärm. Schmerz ist eine heiße Waffe, und wenn sie feuert, möchte man das Stakkato der Schüsse aufnehmen und auf Band bannen, um einmal, nur einmal im Leben nicht zu vergessen, wie es klingt.
Wie sie wohl aussah? Wie eine Pornoschlampe? Wie ein Blasehase? Eine Wichszicke? Oder doch wie ein gar zierliches Fabelwesen, mit wässrigen Träumeraugen und Muttermal an der Hüfte, innen eng, so eng, so geil?
«Mir ist zum Kotzen», rief Laura tonlos und rannte aufs Klo.
«Wenn wir uns angespannt und belastet fühlen, Ängste haben, wenn wir etwas in unserer Umwelt oder bei uns selbst als bedrohlich und ungewiss empfinden, dann wird unser Körper in den Alarmzustand versetzt. Wir atmen schneller und flacher, mehr oben in der Brust statt im Bauch, die Muskeln werden angespannt. Hormone wie zum Beispiel Adrenalin werden ausgeschüttet. Unser Puls und unser Blutdruck steigen an, unser Körper gibt Zuckerreserven und Fettstoffe frei. Auf diese Weise alarmiert das sympathische Nervensystem in Situationen hoher Anspannung und Gefahr unseren Organismus. Diese Alarmreaktion diente unseren Vorfahren dazu, bei Gefahr schnell kampf- oder fluchtbereit zu sein. Bei jedem von uns wird in Situationen der Gefahr, der Bedrohung oder Angst immer noch das sympathische Nervensystem aktiviert. Doch heute ist das für uns nicht immer unbedingt hilfreich.»
Sie würgte, hyperventilierte und knirschte mit den Zähnen, alles gleichzeitig. Vor ihren Augen wurde es schwarz. Es brannte in ihrer Brust. Die Hände krallten sich um den Handtuchhalter. Sie schmeckte den trockenen Geschmack von Alkohol und Gärung auf der Zunge. Die Welt schien zweidimensional zu werden, alles war nur lose aufeinander geklebt, übereinander geschoben. Die Parfümflaschen sanken in die Kacheln ein, wurden zu Intarsien. Die Waschmaschine und die Badewanne: eine Fläche.
Sie wollte etwas ausspeien, das Porzellan bedrecken, sauer anätzen, es ging nicht. Sie wollte schreien.
«Empfinden Sie die Dunkelheit der geschlossenen Augen als unangenehm, dann öffnen Sie sie wieder. Sorgen Sie sich nicht, ob Sie die Übung perfekt durchführen. Denn das hemmt Ihre Entspannung erheblich. Sie spüren nun immer weniger erregende Gefühle oder Gedanken — der Körper kommt mehr und mehr zur Ruhe. Bei jedem Einatmen denken wir das Wort ‹ein›. Bei jedem Ausatmen denken wir das Wort ‹aus›. Begleiten Sie Ihren Atem mit den Worten ‹ein› und ‹aus›. Wenn Sie abschweifen oder durch störende Gedanken abgelenkt werden, dann fühlen Sie wieder ganz bewusst in Ihren Bauchraum zurück. Der Atem darf weiterhin frei fließen. Er wird nicht mit dem Willen gesteuert. Versuchen wir, mit dem Willen in die Atmung einzugreifen, stören wir das Atemzentrum.»
Diese Stimme. Diese Stimme eines jungen Onkels, ruhig, gefasst, deutlich, gebookt über eine Voice-Agentur, ein drittklassiger Schauspieler, ein Freelance-Troubadour, ein Werbe-Callboy. Die Stimme redete wie ein Verwandter, falsch, vertraut, wohlgesonnen und teilnahmslos. Zugleich war es eine irgendwie amerikanische Stimme, der man anhörte, dass da zu viele Zähne die zu perfekten Konsonanten formten.
Die CD war ihr von ihrer Therapeutin geschenkt worden.
Laura fühlte sich von jedem Wort verhöhnt, von jedem Waldesrauschen und Bachgeplätscher ausgezischt und gedemütigt. Aber sie kam nicht auf die Idee, den CD-Player einfach auszuschalten. Sie hatte überhaupt keine Idee mehr, von nichts.
Thorsten hatte sein Handy vergessen. Und Laura hatte es sich gegriffen, gegen erste Widerstände, und, nach weiterem Zögern, seinen SMS-Eingang geöffnet, automatisch, aber mit schlechtem Gewissen. Das verflüchtigte sich schnell. Dann hatte sie, hysterisch, die «Gesendeten Objekte» betrachtet und gelesen. Dann war ihre Brust explodiert.
Laura stellte sich vor, auf einer riesigen Klippe zu stehen und den wirbelnden Wind zu spüren. Die Wellen unter ihr waren ihr Bewusstsein, und ihre Gedanken waren Möwen, die ihr aus der Brust flogen. Alle paar Sekunden ploppte ihr Brustkorb auf, und ein aufgeregter Möwenkopf stieß hervor, erst der Schnabel, dann der Kopf, die Augen, bis er sie mit verklebten, hektisch schlagenden Flügeln verließ.
Und Laura wollte die Möwen festhalten.
Aber die öl- und blutgetauchten Möwen glitschten ihr durch die Hände und stürzten in das Wasser und wurden zu Gischt. Alle ihre Gedanken verließen sie, Möwe für Möwe, Gischt zu Gischt, und sie konnte nichts als zusehen, wie sie rasend schnell abmagerte, wie sie verschwand und sich beim Zusehen des eigenen Verschwindens zusah.
«Und nun beeinflussen Sie Ihren Atem bitte nicht mehr mit Ihrem Willen. Steuern Sie ihn nicht. Es atmet von ganz alleine in Ihnen. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Nase. Spüren Sie, wie die Atemluft durch Ihre Nasenflügel hereinkommt und wieder herausströmt. Wenn Sie entspannter sind und sich wohler fühlen, genießen Sie für einige Momente die Ruhe und den Frieden. Sie haben es sich selbst geschenkt und können es sich jederzeit wieder schenken. Sie können die Ruhe und den Frieden wieder erleben, wenn Sie diese Übung machen.»
Ihr Atem war gelähmt wie durch Asthma, die Lungen eng und panisch in Wut. Sie hechelte auf allen vieren durch den Flur und sabberte Tränen. Der Schmerz war bewusstseinsbetäubend. Der Zorn wuchs und wuchs.
Sie stand auf und schmiss eine Vase herunter. Sie schmiss den Tisch um. Sie hängte sich an die Vorhänge und schwang sich ein Stück durch den Raum. Dann riss sie die Vorhänge ab mit einem Ruck, die Gardinenstange fiel ihr auf den Kopf. Sie setzte sich auf den Boden, sie stand wieder auf. Sie warf den Inhalt des Kühlschranks auf den Boden und gegen die Wand. Bei dem Versuch, ihren Koffer vom Kleiderschrank zu fischen, stürzte sie vom Stuhl und schlug sich an der Schrankkante die Augenbraue auf. Sie trank Milch und Whiskey. Sie warf einen Teil ihrer Kleider samt Bügeln in den Koffer, wie im Film, der offene Koffer sah ihr entgegen wie ein großes Maul. Sie schrie. Sie trank Milch und zerschlug den Toilettenspiegel.
«Und nun beenden Sie diese Übung. Kehren Sie langsam in den Raum zurück. Halten Sie die Augen geschlossen. Machen Sie einige tiefe Atemzüge. Dehnen und strecken Sie sich. Recken Sie die Arme kräftig hoch und zur Seite. Reiben Sie sich leicht das Gesicht. Und öffnen Sie die Augen. Fahren Sie jetzt entspannt mit Ihrer normalen Tätigkeit fort.»
VIERTER TEIL XX-MAS
you talk to me
as if from a distance
and I reply
with expressions chosen from another
time, time, time
from another time
Weihnachten war überstanden, ohne größere Kollateralschäden. Der Geschmack von Spekulatius, Lametta und Depression auf der Zunge war schnell verflogen, nicht zuletzt dank einer ausgiebigen Mundspülung am zweiten Weihnachtsfeiertag, die Magnus Taue in Köln mit seinen Berliner Freunden und unter Missbrauch von köstlichstem Grasovka und anderem Hochprozentigen durchgeführt hatte.