Dieses Jahr war sie besonders bedrückend gewesen, die jährliche Zusammenkunft der ganzen zerrütteten Familie. Diesmal waren Magnussens Mutter Lily und ihre jüngere Schwester Britta, seine Tante, nämlich gleichzeitig depressiv. Das war neu. Normalerweise wechselten sie sich ab, wippten auf und ab, die eine manisch, die andere depressiv, und hielten ihre alte, entnazifizierte Mama im Dauerbelagerungszustand, ließen sich ständig bekochen und bemuttern, obwohl Oma Gertrud schon weit jenseits der achtzig war und regelmäßig beim Supermarkteinkauf vom Rad fiel. Der einzige Unterschied war, dass die eine, Lily, bei Depressionen ohne Unterlass jammerte und wimmerte, während die andere, Britta, die ganz im Gegensatz zu Lily ein mageres, konkav geformtes, hässliches Mauerblümchen war, wenn auch mit trockenem Humor begabt, falls sie denn etwas zum Lachen fand, im Ernstfall kein einziges Wort sagte, nur ihre Nägel bebiss, ihre dünnen Haare um den Finger rollte und blicklos in die Luft stierte.
Alle wohnten sie innerhalb von drei Kilometern beieinander, in Jonnas Plittersdorf, seit je, einzelne Ausbruchsversuche aus diesem Dreieck endeten in Scheidungen und tränenreicher Rückkehr. Sie hockten da zusammen wie verfeindete Glucken, die nicht aus dem offenstehenden Käfig springen wollten. Wöchentlich trafen sie sich in Gertruds dämmriger Küche voller zähem Licht, stellten ihre dickädrigen, nikotingelben, nägelbekauten Hände zur Schau und nörgelten so lang aneinander herum, bis es zu Geheul, Gegeifer und nackten Wutausbrüchen kam. Oma Gertrud drückte dann grimmig das auf Kippe stehende Küchenfenster zu, damit die Lecherts von unten den Streit nicht mitbekämen, presste die dünnen Lippen zusammen und fragte sich heimlich, ob es nicht doch falsch gewesen war, das Erbe vorzeitig auszuzahlen.
Das Extra-Sonder-Anti-Depressions-Filmfilm-Paket der Privaten ließ Magnus und seine Mutter für den Rest der Weihnachtszeit auf dem leicht durchgescheuerten Ikea-Sofa zwischen Tonnen von Tigerkissen sitzen. «Cliffhanger», «Sissi» und «Legenden der Leidenschaft» rauschten vorbei und schlugen die Zeit nur halbherzig tot. Magnus dachte dabei viel an Jonna. Als kleines Hologramm im Hirn oder unter dem Lid blitzte sie auf und verschwand auch gleich wieder. Mehr Inhalt war nicht.
Am Tag vor Silvester, als die Alkoholleichen vollends in den Seilen hingen, das heißt: auf den Sofas oder am Boden des Partykellers lagen, ausstaffiert mit albernen Accessoires wie Sonnenbrillen, Nikolausmützen, Spielführerbinden, und Beine und T-Shirts ihnen als Kopfkissen und Decken dienten wie im Ferienlager, lautes Atmen und erste Grunzlaute hörbar wurden und der talgige Geruch alter Barbourjacken in der Luft hing; als die anderen, die noch gehen konnten, schon längst gegangen waren, um für den Jahreswechsel fit zu sein, und im Fernseher unbeachtet irgendein Hongkong-Film lief, wahrscheinlich von John Woo — da lag Magnus mit Jonna am Pool, einen Raum weiter, zusammen mit Rieke und Erik. Sie dämmerten vor sich hin.
Auf riesigen, hellgelben Kaufhof-Handtüchern lagen sie im künstlichen Licht wie Pauschaltouristen in der Sonne, führten die Drinks mit behäbigen Bewegungen zum Mund und rauchten, da die Packungen leer waren, Selbstgedrehte. Sie waren Endzwanziger bis Mittdreißiger auf Heimaturlaub, betrunken, erschöpft, das Zeitvakuum auskostend, das zwischen weihnachtlicher Rückkehr zur Familie und Neujahr liegt. Die Lichtröhren summten, das Wasser plätscherte ohne Energie.
Jonna, Erik und Magnus waren vor Jahren auf dieselbe Grundschule gegangen; Rieke war eine schöne Unbekannte aus Köln, die von einer der nun knarzenden Alkoholleichen mitgebracht worden war. Ihr Kopf lag jetzt in Eriks wabbeligem Schoß und bewegte sich nicht. Schlief sie schon? Erik selbst saß da wie hingegossen, ein Verschnitt aus jungem Buddha und spätem Marlon Brando. Er baute einen Joint, hatte das Filmdöschen mit Gras und den Tabakbeutel auf Riekes Brustbein abgelegt. Jonna lächelte daneben für sich.
Es hat etwas unendlich Pathetisches, wenn die Leute sich nicht von der eigenen Jugend verabschieden wollen. Jeder kennt aus seinem Bekanntenkreis mindestens einen dieser Berufsjugendlichen, die sich der eigenen Michael-Jackson-Groteske umso weniger bewusst sind, je älter sie werden. Eine nicht weniger pathetische, wenn auch verständlichere Sache ist es, wenn die Leute zeitweilig in die Koordinaten und Verhaltensweisen ihrer Jugend zurückschlittern, zum Beispiel einen der Orte ihrer Jugend besuchen und sich dort so verhalten, als könne man sich auf der Zeitachse genauso frei rückwärts bewegen. Was ein skurriles Bild ergibt, allein körperlich: Die ersten Fettlappen, Wampenansätze, Krähenfüße sind wieder auf Klassenfahrt und spielen Wahrheit oder Pflicht, trinken bis zum Exit, flirten vermeintlich ungeschickt. Nur sind die Gesten weniger grazil und die Worte gewählter als früher, und die Gesichter von Erfahrung und Bewusstsein verhärtet.
Weißt du, was ich meine, Schatz?
Magnus saß am Beckenrand und spuckte in den Pool, in die wabernde Reflexion seines Gesichts. Der weiße Spuckefleck schwamm auf dem Wasser, genau in seinem rechten Auge, und tänzelte dort gemächlich auf und ab. Magnus tauchte die Hand ins Nasse, verwischte den Fleck und schaufelte etwas Wasser hoch. Er kannte den Geruch. Das Chlor roch nach Vergangenheit. Nach seiner Jugend. Nach Solarium, Hometrainer und Bild-Zeitung. Nach Aloe vera auf großporigen Fleischstücken. Nach braungebrannter Elefantenhaut an Hals und Schenkeln, nach ersoffenen Kippen in halbleeren Daiquiris. Der chlorschwangere Geruch benebelte ihn. Er spuckte nochmals hinein und beobachtete die kleinen Kreise, die die Erschütterung warf. In seinem Kopf war eine Leere, die mit nichts gefüllt werden wollte. Er atmete gierig den schweren Chlorgeruch ein, so als könnte diese Leere dadurch ausgedehnt und angereichert werden.
«Wer ist noch dabei», fragte Erik und deutete auf den kleinen Haufen aus Gras und Tabak.
«Ich glaub, ich nicht», sagte Jonna.
«Ich gerne», sagte Rieke und rümpfte komisch die Nase, sodass sich Lachfältchen wie Spinnenbeine von ihren Augenwinkeln abspreizten.
Magnus schwieg und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Erik hatte die Raumtemperatur auf die höchste Stufe gestellt. Nun war es fast so heiß und stickig wie in einem türkischen Bad. In regelmäßigen Abständen baute sich eine ganze Wand aus feuchter Hitze und schwülem Nebel um Magnus auf und mauerte ihn immer enger ein, um dann in sich zusammenzufallen und ihn unter sich zu begraben. Hitzewallungen fluteten durch seinen Körper wie ein Adrenalinersatz.
Jonna setzte sich neben ihn.
«Bist du auch so fertig? Was machst du denn hier? Riechst am Wasser? Sollen wir nicht lieber mal reinspringen?»
«Kann man machen», sagte Magnus. «Kann man aber auch sein lassen.»
«Na, toll», sagte Jonna, lächelte und glitt ins Wasser.
Magnus blickte in das kleine dunkle Fenster zum Hantelraum und suchte den roten Lichtpunkt der Digicam. Er war dabei gewesen, als Erik sie nachmittags auf das Stativ geschraubt und alle Vorbereitungen getroffen hatte: die Kamera ausgerichtet, die Optik scharf gestellt, die Spiegelvorrichtung zurechtgerückt. Wie um diesen Unsinn noch zu toppen, hatte er dann mit den Worten «und das ist die Innovation, mein Freund» eine Webcam obendrauf postiert. Magnus hatte sein erstes Bier getrunken und gekichert; gleichwohl hatte er das Ganze unheimlich gefunden. Nicht den Auto-Voyeurismus, der da zur Schau gestellt wurde, sondern das Anachronistische daran.
Magnus zog sein Hemd aus, blinzelte dabei angestrengt in Richtung Kamera, konnte aber nirgendwo einen roten Punkt entdecken. Entweder die Spiegelvorrichtung verdeckte ihn geschickt, oder er war einfach zu betrunken. Vielleicht aber hatte Erik es sich auch anders überlegt und die schon nicht mehr postpubertäre, sondern eher bereits prämittlebenskritische Mitfilmaktion ganz bleibenlassen. Das wäre Magnus am liebsten gewesen. Es hätte ihn von diesem lästigen Mitwissertum befreit.