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Er sprang.

Im Fernseher nebenan wurde im selben Moment ein alter Mercedes von einer Explosion auseinandergefetzt, deren Druckkraft die Motorradfahrer, die den Wagen soeben noch verfolgt hatten, in einem konzentrischen Spinnenmuster durch die Luft und aus dem Bild wirbelte, zusammen mit rotierenden Feuerbällen und rauchenden Wagenteilen, von denen eines genau auf die Kamera zuflog.

Eintauchen, in das Nasse, Kühle, Weiche. Die Poren werden schockgeöffnet. Die Klänge der Welt weggeschluckt, die Schwerkraft verdünnt. Das Chlor brennt sanft auf der Hornhaut. Du hörst den feuchten Lärm, den du machst, er klingt nah und wattiert. Die Kacheln wabern, werden schärfer. Ein kleiner Schmerz im Ohr, da, wo du einen Riss hast im Trommelfell, wo der Tinnitus fiept, wenn du hinhörst. Du hältst dir kurz die Nase zu, Druckausgleich. Es knackt im rechten Ohr. Dann tauchst du wieder auf.

Magnus war einer jener Menschen, die sich von der Außenwelt ständig bedrängt fühlen. Zu viele Sinneseindrücke prasselten auf ihn ein, vor allem, wenn er von anderen Menschen umgeben war. Zu viele Motive, Absichten, Reflexe zischten ihn an, wenn er mit jemandem redete. Er bedachte zu viel, blieb in der Außenperspektive stecken, fühlte sich, den anderen vermeintlich bis in die letzte Faser seiner Gedankentextur durchschauend, gelähmt. Da er der Natur nichts abgewinnen konnte und selbst das Gewisper der Bäume in einem Park ihn belästigte wie rosa Rauschen im Kopfhörer, war er, seit er denken konnte, am liebsten allein in seinem Zimmer, die Türe zu. Nur brennender Ehrgeiz und die kindliche Gewissheit, etwas Besonderes zu sein, hatten ihn in den Jahren der Pubertät aus dem Zimmer hinaus in eine Art soziales Leben gedrängt, in dem er sich ständig beweisen zu müssen glaubte. Und tatsächlich hatte er, weil er sich talentiert fühlte, Erfolg gehabt und den Ruf eines Genies genossen, mit kühlem Äußeren, das ein glühendes Inneres fasste. Dieser Ehrgeiz war inzwischen jedoch verblasst und zur leeren Gussform geworden, die darauf wartete, mit etwas anderem, Wesentlichem gefüllt zu werden. Er hatte sein altes Ich noch nicht gänzlich abgelegt: Es beschützte ihn wie ein harter Panzer, unter dem ein neues Etwas, amorph und wabbelig wie Austernfleisch, nach Halt und Form suchte. Aber unter dem Panzer war die alte Unsicherheit und Verantwortungsangst wieder eingekehrt, die ihn als Kind in ständige Unruhe versetzt hatte. Er wollte, dass ihm alles Gute zustoßen möge, alle Wünsche wahr würden, ohne dass ein Wille in ihm keimte und er somit Schuld auf sich laden könnte. Beispielhaft hierfür war eine seiner ständigen Phantasien auf der Schwelle zur Geschlechtsreife: Damals hatte er sich nichts mehr gewünscht, als mit Jonna zu schlafen, ohne dass er gewusst hätte, wie das genau geht; und dieser Wunsch war sofort mit einem stichelnden Schuldgefühl verbunden gewesen, das ihm den Traum zersetzte und zusammenfallen ließ wie kalten Schaum. Um dieses Schuldgefühl zu umgehen, steigerte er sich deshalb abends (nach dem Vaterunser, das Abend für Abend in immer rasenderem Tempo heruntergedacht und abgehakt wurde) in Szenarien hinein, in denen er jeglichen Begehrens frei sein würde, Szenarien, in denen beispielsweise Jonnas Mutter, flankiert von einem besorgt dreinblickenden Arzt, ihn inständig darum bat, mit ihrer Tochter zu schlafen, da diese ansonsten an einer unaussprechlichen Krankheit sterben würde, etwa einem furchtbaren Hirnschwund anheimfiele, oder nie mehr ein Kind bekommen könnte. Irgendwann in einer dieser fiebrigen Halbdämmerphantasien hatte er dann seinen ersten Orgasmus gehabt, vor Jonnas imaginär versammelter Verwandtschaft und Ärzten und gerührten Krankenschwestern, die einander an den Händen haltend zusahen, wie er Jonna selbstlos das Leben rettete. Seit jener Zeit auch sah er, wenn er lächelte, das eigene Lächeln in seiner Vorstellung als gestellte Fratze, gedoppelt von außen, verzerrt wie von Photoshop.

Jonnas Lächeln war arglos; sie hatte keine Mühe, es über Wasser zu halten. Sie schwebte an der Oberfläche, leichtgliedriges Federgewicht, das sie war, Magnus immer im Blick, mit ihren großen, braunen Augen, in denen sich die Wellen von unten spiegelten und etwas flackerten. Mit spitzem Mund und runden Augen blickte sie ihn fröhlich an, prustete Wasserkristalle, kraulte Rücken, technisch einwandfrei, wie sie es schon sehr früh in der Grundschule gekonnt hatte. Das Wasser schwappte über ihre Brüste, ihre Beine schlugen auf und ab im Scherenschlag und warfen nasse Funken ab. Drei schwarze Strähnen klebten an ihrer Stirn und funkelten ihn an. Es sah unbeholfen aus, wie Magnus auf sie zukraulte, er kam kaum von der Stelle; er musste die Hektik abwehren und seinen Atem organisieren und auf das ihm nicht zugängliche Wissen seines Körpers vertrauen. Als er sich nicht mehr anstrengte, ging es sofort besser. Mit weitausholenden Kraulbewegungen schwamm er auf Jonna zu, langsam, instinktiv, gleichmäßig wie ein Krokodil.

Sei der Pool auch neu und türkis, es ist immer noch das alte Wasser, das, wenn du dich einlässt, Erinnerungen durch deinen Körper schickt, die nicht deine sind, die deinem Körper gehören, die ihm nicht gehören, auch sind es keine Erinnerungen, vielleicht zähe Reflexe, Frühestes, abgerufen aus dem Hallraum zwischen Physis und Psyche, der beim Driften im Fruchtwasser ein erstes Echo in sich trug.

«Hier», sagte Jonna. Ihr Jochbein, besprenkelt mit Tropfen wie Perlmutt, machte einen kleinen Ruck nach oben und gab den Blick auf das Dreieck zwischen Halsbeuge und Brustbein frei. Sie lag auf dem Wasser, die Arme lässig auf den Beckenrand gestützt, und drückte ihm einen Drink in die Hand.

«Was ist das?», fragte Magnus, außer Atem.

«Jonna’s Sunrise», sagte Jonna. «Ich habe einfach Zucker, Orangensaft, Wodka und Batida zusammengemischt. Die Reste. Und Kirschsaft.»

«Schmeckt aber», sagte Magnus.

«Das ist eine Lüge», sagte Jonna.

«Stimmt», sagte Magnus. Der Halbmond ihres Gesichtes schien ihn von der Seite an, als wollte Jonna ihn zu etwas auffordern. Drüben alberten Rieke und Erik miteinander herum und kamen sich näher, Korkenzieherlocke an Fettschwarte.

«Ist alles okay bei dir?», fragte Jonna.

«Geht so», sagte Magnus. «Lily nervt.»

«Klar», sagte Jonna, «Familienstress zwischen den Jahren. Hat jeder. Frag mich mal.»

Magnus kam die Situation plötzlich seltsam intim vor, so zu zweit im Wasser, nass, halbnackt, mit an den Schädel gepappten Unfrisuren — wie zwei Babys, die gemeinsam schwimmen lernten; oder auch wie zwei Fremde, die je alleine in der vollgedampften Ecke eines Hamams zu sitzen geglaubt hatten und gerade jetzt, wo der Dampf sich etwas lichtete, erschrocken einander entdeckten. Die Situation hatte etwas Ursprüngliches, Archaisches, und deshalb auch etwas Schamhaftes.

«Aber bei dir ist das was anderes», sagte Magnus.

«Was? Wieso?», fragte Jonna.

«Deine Familie ist doch eine Bilderbuchfamilie», sagte er, «mit christlichem Rückgrat, gutgeratenen Kindern, einer wohlsortierten Bibliothek und einer Hintertür, die immer offen steht, während ich —»

«Nein», sagte Jonna, «ich meine nicht unbedingt meine Familie, ich meine eher die Zeit. Etwas ist anders dieses Jahr. Etwas ist — etwas ist anders.»

Sie sagte das fast mit einem Lispeln, die Sibilanten zischten besonders hart, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie betrunken war oder etwas ihr Unangenehmes aussprach.

«Was ist denn anders?»

Jonna schwieg.

«Jonna?»

Magnus spürte eine Welle der Melancholie durch seine Brust gehen.

Jonna war immer straight gewesen. Bildhübsch im Gesicht, der Körper eine Wohltat für pornomüde Augen, ein offenes, weltzugewandtes Lächeln dazu, für alle und jeden fast, diente sie als Projektionsfläche für weitaus mehr als plumpe Sexphantasien, eigentlich im Gegenteiclass="underline" Bei Jonna ging es immer gleich ums Ganze, um die Ehe, um die Familie, so hatte ein Großteil der Internen gedacht, früher, oben auf dem Berg, und nicht nur sie, nicht nur sie.