Magnus erinnerte sich an Abende mit ihr, da sie am Rhein gesessen, das Wasser beobachtet, auf den Atem des anderen gehorcht hatten, wie der Fluss nach links geflossen war, einer riesigen Zunge ähnlich, einem starken feuchten Muskel, der sich beständig zwischen Bonn und das Siebengebirge schob — um nichts zu schmecken?
Wie sie sich mit billigem Tankstellenwein betrunken hatten, langsam die Luft weicher und frischer und kostbarer geworden war, mit jedem Schluck und jeder Minute, ein Meer aus vaporisierten Diamanten, Medizin für Lungen und Herzen; und das ziegelfarbene Licht, in dem die gegenüberliegende Halbstadt zu flimmern begann; und Brezelreste auf der Decke, die unterm Rücken zerkrümelten, während sie dalagen und leise Träume und Kindernamen aus rotweinblauen Mündern hochsteigen ließen, in den dunklen, sternenbesetzten Himmel, der so irre runterkam, und wieder hochging, und wieder runterkam — und die Frage, ob der Himmel vielleicht das Trampolin Gottes sei? Und die Sterne nur winzige Löcher im elastischen Stoff, und dahinter das hochpotente Scheinwerferlicht einer Turnhalle voller — Glück?
Stunden voller Lachen und Mondgeflüster und Mückensummen: damals, als man sich ständig neu erdachte und Lebenspläne verbrauchte wie starke Zigaretten, Hauptsache, es brannte gut auf der Zunge; Hauptsache, das Brennen konnte in einer Minute (oder in einer Stunde oder in einer Woche oder irgendwann) von diesem einen Kuss gelöscht werden, der in der schimmernden Luft lag; der Kuss, auf den alles hinauslief, der Kuss, der allem bisher Geschehenen eine andere, eine richtigere Bedeutung geben würde und von dem her sich die Kostbarkeit dieses Augenblicks speiste, aus der Zukunft, an diesem Fluss, der so philosophisch wie das Leben war, nur einmal greifbar in diesem Moment und im nächsten schon ein anderer, ja, ihr Griechen, ja; und wie ihrer beider Hände das trübe Rheinwasser hochschaufelten, um es festzuhalten, und wie das Wasser, wenn man es festhalten wollte, zwischen den Fingern hindurchrieselte, behänder als Sand oder Öl oder Milch.
«Sonnengeflüster, Drogenrauschen, gescheckte Geräusche: Damals, als wir uns ständig neu erdachten, damals, es ist gar nicht so lange her, stell dir vor, als wir uns als Rebellen gefielen, die die Füße nur hochlegten, wenn der viele Wein in die Beine zu sickern drohte, und uns beim Kreuzpissen verbrüderten; achtmal die Acht gingen, bis es einem gut schwindelte; als wir dachten, wir seien Revolutionäre, oder wir könnten Revolutionäre sein, bestimmt, bald; oder vorgaben, es zu denken, ein Frühling lag in der Luft, Aufbruchsgelüste, wir hatten ihn selbst hineingelegt; und eine Guerilla werden wir sein, nickten wir, erinnerst du dich, ein fürchterliches Tribunal, denn wir sind aus dem Dschungelholz der Guillotine geschnitzt, weißt du das noch, hörst du mich; als wir gegen den Wind agitierten, seraphisch wie hier, mal in die eine Richtung, mal in die andere, the way the wind blows, von der Brüstung fielen und liegen blieben, weil der Himmel so irre runterkam, lachten; Frühling am Rhein: Damals, was ein Wort, tratst du in mein Leben, tratst du ein, tratst du in mein Leben rein, mit spitzem Schuh, zerbeultest seine jungen Formen, und herausgekommen bin ich, in allen meinen gezinkten, gezackten Ausführungen, und habe mich, den anderen, total verdrängt.»
Atmen.
Klick.
«Nichts ist anders», sagte Magnus. Er hörte seine Stimme wie aus einer Entfernung, spürte Jonnas Oberschenkel an seinem. Er unterdrückte die Melancholie.
«Was ist denn los, Jonna? Ist es wegen des Examens? Ist der Druck zu groß?»
«Nein», sagte Jonna, «es ist — ich weiß es nicht.» Ihr Gesicht schimmerte ängstlich über den seichten Poolwellen.
«Sollen wir nicht gleich zu mir fahren?», fragte sie, und Magnus sah ihren kleinen Mund und ihre weißglänzenden Schneidezähne wie isoliert vom Rest des Gesichts.
«Ich würd’s dir gerne erzählen, aber nicht hier, nicht so.»
«Was ist jetzt?», fuhr Erik von der anderen Seite des Pools dazwischen. «Noch jemand dabei beim frühmorgendlichen Konsum von erlesensten Herbalprodukten?»
Seine Stimme klang metallen.
«Ja, können wir machen», sagte Magnus, dann leiser, zu Jonna: «Was ist denn los? Bist du etwa schwanger?»
«Quatsch», zischte sie und stieß sich los.
«Warum sagst du es denn nicht einfach?», fragte Magnus ihren wegruckenden Rücken.
«Du lässt einen ja nicht zu Wort kommen», zischte sie nochmals über die Schulter zurück und schnitt durchs Wasser.
«Das alte Übeclass="underline" Sauna und doch so fern», rief er ihr hinterher und lächelte. «Oder, Jonna?»
«Nicht witzig», sagte sie ins Wasser, «nicht witzig.»
Magnus wedelte mit seinem Glas voller buntgescheckter Brühe in Richtung Erik und schüttelte den Kopf. Dann strampelte er ein wenig mit den Beinen, legte den Kopf in den Nacken und spielte toter Mann. Aber es gab keine Strömung im Pool, keine Richtung, man konnte sich nicht treiben lassen. Die braun lackierten Holzplanken an der Decke bewegten sich nicht, und statt Sterne gab es Punktstrahler, aufgereiht wie Knopfleisten.
Echsengleich schnappte Rieke nach dem Joint, inhalierte, machte Kuhaugen. Ihre Gesichtszüge wurden von einer auf die andere Sekunde ledern. Sie zog nochmal und nochmal und schien sich dabei enorm zu entspannen.
Dann war Jonna an der Reihe. Mit einem Gesichtsausdruck zwischen Neugier und Albernheit zog sie an dem Joint, tat erfahren, was ihr natürlich in keinster Weise gelang. Sie lächelte hinüber zu Magnus mit einem belustigten Blick, der sagen sollte: Guck weg! Rieke wurde währenddessen immer wacher und begann, leise auf Erik einzureden, der sich seinerseits nicht entblödete, den weitergereichten Joint zwischen kleinen und Ringfinger zu stecken und den Rauch durch die hohle Hand einzusaugen.
«Die Vier ist die Zahl der Ganzheit», sagte Rieke. «Vier Jahreszeiten, vier Elemente, vier Mondphasen. Du bist ein stabiler Mensch, Erik, und wirst einmal sehr reich sein.»
Erik, der ein Gesicht hatte, das weder alt noch jung war, nickte. «So was dachte ich mir schon», sagte er lakonisch.
Denn das war Erik: der reiche und witzige Typ mit den dekadenten Fruchthof-Eltern, die allen Ernstes Harry und Mandy hießen und schon in früheren Zeiten immer das Haus geräumt hatten, wenn der Sohn eine Party schmeißen wollte. Erik mit den schnellen Sprüchen und dem Business-School-Studium in Göttingen, A- und B-Seite derselben Platte; Erik, der ein seltsam ebenmäßiges Gesicht besaß, griechisch und perfekt, das Nasenbein wie mit dem Lineal gezogen, und Augenbrauen wie Torbögen, und funkelschwarze Pupillen und einen bronzenen Teint, der schon schwul wirkte; ein Gesicht also wie Fernsehen, und trotzdem hätte nie jemand behauptet, Erik sei hübsch oder schön, obwohl die Schönheit doch eigentlich mit Händen greifbar war, aber eben nur in Einzelteilen, ohne charaktervolles Ganzes, das sie verband; der sympathische, gestörte, erfolgreiche, verweichlichte, aufgeschwemmte, verlebte, großartige, perverse Erik, bei dem alljährlich die Reunion-Partys der alten Freunde stattfanden, immer am Tag vor Silvester, an dem sich alle, die nicht im Urlaub waren, wild betranken und in alten Zeiten schwelgten und einander natürlich immer weniger zu sagen hatten. Harry und Mandy waren derweil im Starlight Express.
«Die Drei ist die Zahl des Märchens», sagte Rieke und sah Magnus an. «Dreiermenschen sind vielseitig begabt und sensibel.»
«Wie Fische?», fragte Magnus sarkastisch. «Ich bin nämlich Fisch. Wie man sieht.» Und plätscherte übertrieben mit den Füßen im Wasser.
«Astrologie und Numerologie haben nichts miteinander zu tun», belehrte Rieke ihn; vor ihr lagen Papierhaufen und Stifte und Würfel, ein Buch. «Aber wenn du so willst, haben Dreiermenschen und Fische einiges gemein.»