Blau verfing sich wieder in Braun und zappelte.
Schnell rissen sie sich fast ängstlich voneinander los. Magnus zerstreute seinen Blick nach unten und las ihn verlegen und mühsam wieder auf. Der Teppich war makellos. Ohne etwas dafür zu können, sahen sie sich gleich darauf erneut an, jetzt sicherer, bewusster, entschieden.
Jonna lächelte. Es gab kein Geheimnis mehr. Alles stand offen. Sollte das ewige Spiel von Anziehung und Abstoßung, das sie jahrelang gespielt hatten, so einfach und undramatisch ein Ende finden? Die Dramaturgie des Moments erlaubte keine solchen Fragen; doch hätte Magnus gerne gewusst, ob er das Geheimnis wirklich aufgeben wollte für etwas, das sich wohl in nichts von dem unterscheiden würde, was er bereits erlebt hatte; ob hiernach nichts mehr da sein würde, das sich ersehnen oder leugnen ließe; ob nicht gerade das jahrelange Ersehnen und Leugnen seiner Leidenschaft für Jonna dieser erst Feuer und Dauer verliehen hatte; und was jetzt noch zu leugnen und also zu ersehnen wäre.
Aber diese Fragen ließen sich nicht mehr stellen. Wie automatisch folgten die Körper den Blicken.
Jonna fühlte sich dünner und kantiger an, als er vermutet hatte. Ihre Lippen waren trocken, ihre Küsse spitzmündig, als müsste sie ein Lachen unterdrücken. Alles, was sie tat, war seltsam ungeübt und passiv. Sie waren sich einmal zuvor nahe gekommen, vor Jahren, am Rhein, ohne dass dies zu irgendetwas geführt hätte. Der aufgeschobene Zauber all der Jahre seitdem staute sich jetzt, in diesem Augenblick, und fand dennoch kein Ventil.
Magnus fasste sie an, wie er andere Frauen angefasst hatte, dieselben Griffe, Verzögerungen — aber es fühlte sich an wie gespielt. Er musste sich zusammenreißen, um nicht das kleine Mädchen in ihr zu sehen, das er früher geliebt hatte, um nicht in eine große Zeitverwirrung zu geraten und sich wie ein dreckiger alter Mann zu fühlen, wie ein Pädophiler, der sich an etwas Bravem verging.
Er zog ihr das T-Shirt über den Kopf. Ihre schweren Brüste fielen heraus und sahen ihn an wie traurige Eulenaugen. Die Größe ihrer Nippel machte ihn selbstsicherer, gab ihm die Gewissheit, dass es zwei Erwachsene waren, die sich hier aufgeilten. Er streichelte die Brustwarzen mit den Fingerspitzen, kniff sie leicht und fühlte eine Erektion wachsen. Hier war die Frau, die er in allen Frauen gesucht hatte, und jetzt, wo er sie haben konnte, haftete dem Ganzen etwas Vergangenes an. Er küsste ihren Hals, sie seufzte leise und befremdlich. Der Geruch von Plastikfolie stieg ihm wieder in die Nase, und ihre Haut roch nach Barbourjacke: talgig, wächsern, grün.
Er hämmerte es sich in den Kopf: Frau, das hier ist eine Frau … wollte ihren Namen nicht mehr wissen … alles vergessen, keine Vorgeschichte haben … die Rahmendaten verwischen … sie einfach besitzen –
Er öffnete ihre Jeans, ließ seine Hand hineinfahren (Frau, Frau, das hier ist eine Frau, und ich will sie jetzt besitzen), langsam, sachte, bestimmt, fühlte ihr Schamhaar, das knisterte.
«Warte», sagte Jonna plötzlich, «warte.»
«Ja», sagte Magnus sofort, beschämt wie ein ertappter Ladendieb, und wich erleichtert zurück.
«Ja, wir sollten das nicht tun, lieber nicht», sagte er und nickte. Alles fiel ihm wieder ein, sein Herz wummerte, und er war froh und dankbar, dass Jonna ihn aufhielt, um ihre jahrelange Freundschaft nicht in eine mögliche Katastrophe münden zu lassen. Er selbst hätte es nicht geschafft.
Aber das war es nicht. Das war nicht, was sie sagen wollte.
«Nein, warte, Magnus», sagte Jonna, «das ist es nicht.» Ihre braunen Augen funkelten hart und ängstlich.
«Was dann?», fragte er und richtete sich auf. Sein Gürtel schepperte.
«Ich bin schwanger.»
«Schwanger?» Er wich weiter zurück. «Aber du hast doch gesagt …» — fahrig griff er nach der Zigarettenschachtel. «Ach so. Ach so ist das.»
Die Zigaretten fielen ihm durch die Finger auf den Boden. Ungeschickt tauchte er ihnen hinterher, um Jonna nicht zu sehen, um nicht reagieren zu müssen. Das Blut schoss ihm in den Kopf und in die Augen, und ein Bild blitzte in seiner Vorstellung auf, Nicolas Cage in Wild at Heart, wie er sich zwei Zigaretten anzündet, nachdem Laura Dern ihm sagt, dass sie schwanger sei, nein, es nicht sagt, sondern auf ein Stück Papier schreibt, weil sie es nicht sagen kann, weil es unsäglich ist — und er hatte nicht übel Lust, es Cage gleich zu tun und Jonna die Zigarette zu versagen, die sie mit einer gedankenlosen Geste verlangte, und diese Zigarette selbst zu rauchen, seine und ihre, zwei Zigaretten auf einmal, sprachlos und cool und ohne Gefühle.
«Aha», sagte er, als er wieder auftauchte, «schwanger, das ist natürlich was, das ist ja ein Ding.» Die Flamme in seiner Hand zitterte, als er sich zwei Zigaretten ansteckte.
«Ich wollte, dass du es weißt», sagte Jonna. «Bevor hier irgendwas —»
«Bevor hier irgendwas passiert, was eh keinen Sinn hat», unterbrach er sie. «Ja. Ja.»
Pause.
«Seit wann weißt du es denn.»
«Seit vier Tagen. Du bist der Erste, der es erfährt.»
«Deine Eltern wissen es noch nicht?»
«Nein.» Sie zog lange und gierig an der Zigarette; die Glut knisterte.
«Okay», sagte Magnus. «Okay, okay.» Er stand auf und ging zum Fenster. «Dann wird hier also ein Kinderbett stehen, ja? Und da der Laufstall? Oder wirst du umziehen? Okay. Okay, okay.»
«So weit denke ich noch nicht», sagte Jonna.
Magnus lachte verzweifelt in sich hinein, ohne dass sie es merkte. Mein Leben ist ein einziger Interruptus, dachte er.
Jonna sagte nichts.
Dann fing er sich wieder.
«Das Christkind ist geboren», grinste er. «Und — wer ist der Vater?»
Kenne er nicht, den Vater, hatte sie gesagt. Nein, sie seien nicht mehr zusammen, hatte Jonna geseufzt und den Rauch der Zigarette durch die Nase geblasen. Sie sei nicht mehr verliebt und möge ihn gar nicht, den Vater, hatte Jonna spitzmündig erzählt, und es sei ein Unfall gewesen, oder was man so Unfall nenne, eine schwarze Strähne war ihr die Wange herabgehangen und hatte im weichen Stehlampenlicht geglänzt. Unfall, ja, aber nicht auf die hirnverbrannte Art der Gäste in den Proleten-Talkshows, bei Gott, was denke er, sie habe schließlich die Pille genommen. Vielleicht, zugegeben, und hier hatte sie etwas gelispelt, weil es ihr unangenehm war: vielleicht einmal, zweimal ein wenig zu spät. Ja, fahrlässig, hatte sie gesagt, ein Wort, das in Magnussens Ohr ebenso fremd klang wie aus Jonnas Mund, fahrlässig. Manchmal ginge es da um Stunden, bei der Pille, hatte sie gesagt. Magnus kannte sich nicht aus mit der Pille. Er wusste nur, dass eine Abtreibung weder für Jonna noch für ihre Familie in Frage käme. Dass Jonna jedoch in absehbarer Zukunft zur sorgenden Mutter mutieren könnte, wollte er sich auch nicht vorstellen.
«Wie würdest du es nennen?»
«Was?»
«Dein Kind.»
«Ein Kind? Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht drüber nachgedacht.»
«Lügner. Jeder hat schon mal drüber nachgedacht. Jasper? Josephine?»
«Jan oder Julia. Bloß nichts gewollt Schräg-Bürgerliches. Nichts Extravagantes. Fühlst du eigentlich schon etwas?»
«Nein.»
«Du weißt doch gar nicht, welches Fühlen ich meinte. Ob im Bauch, in der Brust oder im Kopf.»
«Egal. Nichts ist anders. Noch nicht.»
«Egal.»
«Egal.»
«Jonna?»
«Ja.»
«Nichts.»
«Doch, sag.»
«Ach. Mir fällt da was ein. Warte mal.»