In der Nacht scheinen Tannen viel größer als tagsüber. Die Tannen waren wie schwarze, furchteinflößende Riesen, die wankten, die über Magnus berieten, aufgewühlt. Sie wallten auf und ab, vom Wind bewegt. Wogen fuhren durch die Äste. Es schien, als gestikulierten die Bäume in der Diskussion, erwogen (erwogen!) Für und Wider, kamen zu keinem Schluss, hatten Mitleid und wollten ihn mit ihren Ästen wie mit übereinandergelegten Händen schützen. Hin und wieder funkelten Lichtsprengsel auf im Dickicht, rechts, von der Landstraße her, Scheinwerferstrahlen, die sich kurz durch die Nadelwellen bohrten.
Wenn man einmal ernsthaft in jemanden verliebt war, ist man dann mit diesem Menschen unwiderruflich ein Leben lang verbunden? Führen unterirdische Kanäle vom einen Leben zum anderen, wechselt die Luft deshalb die Farbe, wenn man an ihn denkt? Die Schicksale sind nicht verwoben, wissen aber voneinander. Und hört man dann etwa die Stimme und die Intonation des anderen nach Jahren wieder, die Art zu sprechen, durchs Telefon, in einer Kneipe, im Fernsehen, wird aus der Vergangenheit knallwache Gegenwart, und alles fällt einem wieder ein, nicht wie ein Gedanke, nicht wie eine Lawine, sondern gerade so, als ob unvermittelt das TV-Programm gewechselt hätte. Ein Teil jedes Bewusstseins scheint reserviert zu sein für diese Kanäle. Für diese nerdige, heimliche Buchhalterei der vergangenen Leidenschaften, diese unbewusste Doku-Soap. Für Piratensender, die beizeiten dazwischenfunken, ohne dass man das wollte. Und das Ich ist wohl die Fernbedienung, die entscheidet, wann genug ist. Dann wird zurückgezappt.
Der Kottenforst war ein alter, vertrauter Geselle. Magnus erinnerte sich an Spaziergänge mit seiner Mutter und dem zeitweisen Stiefvater, an Schneeballschlachten, Schneemänner, Wutausbrüche. An Zeltlager mit dem Fußballverein, Überfallkommandos und die Angst vor dem vermeintlichen Wildeber, Flucht auf den Baum, hysterisches Glucksen in den Ästen, Harzhände. An Wanderungen mit der Grundschulklasse und der Lehrerin Frau Gabelholz, an die Frage: Die Bananenschale, die darf ich aber schon einfach so wegwerfen, oder? Auch an die einzige Maibaumaktion, bei der er je mitgemacht hatte, und an das tragikomische Bild der verlassenen Birke im Rinnstein, ein riesiger, erleichterter Weißstrunk, morgens um sieben.
Es war um Jonna gegangen, wie es so oft um Jonna gegangen war. Drei Jungen wollten sich einmal so richtig jungshaft fühlen und fällten (mit kleinen Sägen, die bei der ewiglangen Fällaktion jaulten, hechelten und irgendwie auch kicherten) eine stattliche Birke im Kottenforst, um sie, so war der Plan, durch ganz Godesberg Richtung Plittersdorf zu tragen und nach der Tradition, fast minneartig, vor Jonnas Fenster aufzustellen. Es war Leifs Idee gewesen. Einer war immer in Jonna verliebt. Im Zweifelsfalle Leif.
Dumm nur, dass die Jungsgruppe den Zeitplan aus dem Auge verlor vor lauter Lachen, Schnaufen, Fluchen, Bierwetttrinken, Klein-Klein-Gesäge und Försterausschau, denn natürlich ist der Förster am ersten Mai besonders wachsam. Die Birke war ein zähes Luder, das Kölsch kalt, die Witze frisch, und so dauerte es knapp zwei Stunden, bis die schon zahllosen «Timber!»-Rufe endlich auch ihre Erfüllung fanden: Die Birke fiel, mit einem dumpfen, zitternden Aufschlag, der sofort einige heimliche Fragen aufkommen ließ.
Die Birke war nämlich — entgegen aller Intuition, die die Birke an sich, vielleicht wegen der weißen, nicht als Farbe geltenden Farbe, eher für ein leichtgewichtiges Holz hält — , sie war unverschämt schwer und ließ die Träger, kaum hatten die jungshaften Jungs sich mit dem Baum auf den Schultern auf den weiten Weg gemacht, unter ihrem Gewicht ächzen. Das Bier trat sofort durch die Poren wieder heraus, wie das so ist, wenn man trinkt und sich dann anstrengt, und das allgemeine Witzeln war gekeuchten Angeboten und Nachfragen in puncto Gewichtsverlagerung gewichen: «Kann noch jemand was mehr nehmen?» — «Ich kann noch was nehmen …» — «Ich auch!» — «Dann gib mal!» — «Ja, wie denn? Schnell! Meine Schulter!» — «So?» — «Ja, besser!» — «Jetzt ist bei mir zu viel! Hey, Leute!» — «Scheiße, bloß nicht mehr!» — «Ich! Ich kann noch was!» — undsoweiter, derselbe Klagegesang mehrere Stunden lang.
Im Morgengrauen dann — das, wie heute, mehr ein Morgenbläuen war, dachte Magnus — kamen sie am Waldkrankenhaus an, das zugleich die Waldgrenze markierte, gingen noch ein paar Kilometer hinunter nach Schweinheim, wo der krötenhässliche Ralf wohnte, und sahen dort plötzlich ein, dass es schon jetzt viel zu hell war, um jemandem noch einen Baum zu stellen, wie sähe das denn aus, und bis zu Jonnas Plittersdorf waren es noch zwei Stunden, und sollten sie den Baum vielleicht unter den Augen der ganzen Familie Kuroschka aufstellen, angefeuert von den gerührten Eltern, ausgelacht von den Brüdern, irritiert von Jonnas mausspitzem Grinsen im Fenster?
Also wurde die prächtige Birke, die leider ein paar Kilo zu prächtig war, einfach auf die Straße gedonnert, mit großem Hallo, Trara und Tamtam. Sie rollte dann in Richtung Bürgersteig weiter, landete im Rinnstein und lag dort wie ein zu Tode gestreckter Schimmel. Es schien ihr aber zu gefallen. Sie schien, wie gesagt, erleichtert. Und die drei konnten wieder lachen und machten sich müde auf den Weg nach Hause.
Schon zwei, drei Kilometer weiter. Magnus fror. Mit Erinnerungen ließen sich Zeit und Kilometer überbrücken, sodass die Kälte nicht zu aufdringlich wurde. Leider war Magnus aber kein Erinnerungsmensch. Das nostalgische Schwelgen in Gewesenem gab ihm nichts, und es gelang ihm auch selten. Die Vergangenheit war ihm nicht wichtig. Ganz anders als Leif, der wohl am liebsten nochmals die ganze Schulzeit durchleben würde, wollte Magnus so wenige Gedanken wie möglich an die Vergangenheit verschwenden und sie schon gar nicht bereden oder wiederauferstehen lassen.
Gleichwohl hatte er nichts zu verstecken oder zu verdrängen, falls er das überhaupt beurteilen konnte. Er hasste weder seine eigene Vergangenheit noch die Vergangenheit an sich. Nur hatte eine von beiden ihm zu viele Versprechen ins Ohr geflüstert irgendwann, Versprechen, die noch auf ihre Einlösung warteten.
Und ein Taxi kam auch nicht vorbei.
Zwei Stunden später. Das Blau über Gimmersdorf wurde scheckiger, ging ins Weißliche, Neblige. Die Autos auf der Landstraße dröhnten lauter und zahlreicher, trotz Silvestermorgen, schoben diffuse Lichtkegel vor sich her, die den Milka-Nebel nicht auflösen konnten. Noch immer nickten und wisperten die Tannen, wenn auch leiser. Sie waren schon geschrumpft im wachsenden Streulicht.
Magnus trank die Bierdose leer, zerknüllte sie, warf sie in einen bereits zugemüllten Busch, ging weiter.
Bewaffnet mit einer in Red Bull aufgelösten Aspirin stieg er die Treppe hoch, an einer Armee alberner Damenschuhe vorbei, die meisten nie getragen. Die Schlafzimmertür stand offen. Das abgewrackte Bett ungemacht, aber leer, umzingelt von Vasen, Töpfen, Enten, Pelikanen, Statuen, von Silber, Gold und Silbergold, sprießend und herausschießend wie Orchideenstempel oder die dürren Schwänze verirrter Alter, bereit zur Befruchtung: und um das Bett Wälle aus Boulevardblättern und Cosmopolitan—Heften, die Lily sich von einem Klinkenputzer hatte aufschwätzen lassen, und Landschaften von ungetragener Billigkleidung, echten Pelzen, Markenfälschungen, Rolex-Etuis.
Die Wünsche sind suspendiert, die Lebensentwürfe verblasst, es gibt keinen Gefährten mehr, der zu einem steht, das Haus ist geblieben in gütlicher Trennung und muss jetzt herhalten als Gegenüber der Bepartnerung. Die Träume sind zerbrochen, die Scherben unter räudige Bettvorleger gekehrt, um sich nicht zu schneiden, sich niemals wieder zu schneiden. Alles Leben konzentriert sich im Jetzt. Keine Andenken an die Vergangenheit werden zugelassen, schon gar nicht welche an die gescheiterten Ehen, Teil für Teil wächst der Blick zu, wird die eigene Biographie mit Tigerkissen und Leopardenbettzeug weich erstickt.