Auch zum Jetzt gehörig: die Erotik der Spätentwickelten, dieses Noch-was-vom-Leben-haben-Wollen, ausgestellt in nackten Plastikgriechenärschen, schwülstigen Loverlippen auf gerahmten Postern, prallen Mädels als Lampenständer, schlampig versteckten Kondomen. Der kurze Flur auf dem Weg, gesäumt von Sektflaschen, Geschenken flüchtiger Liebhaber, aufgereiht wie Trophäen, von Sternenbändern umwickelt und von Plastikobst interpunktiert, und Papiersträuche und Seidenwedel, Insignien kleiner Sehnsüchte, Schleifen und Schleifchen, glitzernde Halbmonde, zwitschernde Vogelpärchen aus Ton, Stoffnikoläuse, rosarote Deckchen, denen man, obwohl jahrzehntealt, noch immer den Firmengeruch ansah, Raufaser und Flauschteppich, Vergeilung des Billigkapitalismus, Leerlauf des Lebens.
Verdammt. Magnus ließ Wasser in die Badewanne ein, zog sich aus und suchte sich unter Hunderten von eingestaubten Duschgelproben und Badelotionen die heraus, die am wenigsten exotisch-papayaesk klang. Er riss sie auf und ließ sie in das rauschende Wasser tropfen, das sich rosa färbte. Kunstefeu rankte über seinem Kopf, ein üppiger Plastikbaum kitzelte ihn an der Seite. Er befühlte seinen Hals, fand seinen Puls nicht. Unter dem Spiegel stand die Armee von Lippenstiften, Pflegemasken, Haarbändchen, Haarsprays, Schatullen, Ramschhalsketten, rosenbehauenen Zahnbürstenständern, halbvollen und leeren Parfüm-Flakons, kleinen Kupfermäusen, Porzellanengeln.
Dann stieg er in die Badewanne. Das Wasser, heiß auf der Haut, schäumte nicht, hatte den Rosastich abgelegt und sich stattdessen goldgelb verfärbt. Magnus tauchte unter, den ganzen Körper unter Wasser, schloss die Arme um seine Beine und ähnelte kurz einer Bernsteinfliege, die noch nichts vom kommenden Zeitstau, vom Wandel der Aggregatzustände weiß. Magnus hielt die Luft an; Magnus weinte.
«Na ja, der alte Witz.»
«Welcher?»
«Liegt ein Mädchen nackt und ohnmächtig vorm Crash. Kommst du vorbei, hebst sie hoch, schaust ihr ins Gesicht, lässt sie wieder fallen und sagst: ‹Nee, die kenn ich nicht.› Kommt Leif vorbei, hebt sie hoch, schaut ihr ins Gesicht, lässt sie wieder fallen und sagt: ‹Nee, die kenn ich auch nicht.› Kommt Erik vorbei, spreizt ihr die Beine, schaut kurz rein und sagt —»
«Nee, die ist nicht aus Bonn.»
«Genau», kicherte Jonna und strich sich eine schwarze Strähne aus der Stirn.
«Hast du eigentlich auch was mit dem gehabt? Irgendwann?»
«Nein. Gott bewahre! Ich bin doch ein braves Mädchen.»
Sie blickte aus dem Fenster des Cafés, eine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen. Eine Frau mit Kinderwagen ging vorbei. Ohne den Blick vom Wagen zu lassen, sagte sie: «Ist das nicht seltsam, wie viele Paare erst nach der Schule zusammengekommen sind? Da hat man Jahre Zeit, und erst wenn alles vorbei ist, stürzen sie sich aufeinander wie bescheuert. Am besten noch in der Abi-Zeit, kurz vor Torschluss. Als hätten sie während der Schulzeit Ladehemmung gehabt.»
«Die Schule trägt eben nicht zur Entfaltung der Persönlichkeit bei. Vielmehr hemmt sie selbige», bemerkte Magnus, als würde er zitieren.
«Und kommen jetzt nicht voneinander los», vervollständigte Jonna ihren Gedanken. «Nein, es liegt nicht an der Schule an sich, glaube ich, es liegt eher an dieser Nähe. Ständig kauert man aufeinander herum, beobachtet sich und verkrustet.»
«Auf der Schule ist es wie auf dem Dorf. Alle total gehemmt und beschränkt.»
«Ja. Du und Annabelle wurden immer als Ausnahmen angesehen.»
«Kann sein.»
«Obwohl ihr gar nicht zusammengepasst habt, wie ich finde.»
«Ich habe sie ja gehasst vorher. Nein, stimmt nicht. Ich —»
«Kitschig, oder? Wenn Hass in Liebe umschlägt …»
«Ist längst vorbei. Und gehemmt bin ich jetzt auch wieder. Wie früher. Alles beim Alten. Wie der kleine Junge, dem seine Mutter das verhasste Pausenbrot in die Schule nachbringt. Kennst du doch noch, den Kleinen, oder?»
«Ihr ist übrigens nichts Besseres eingefallen, als dich zu verdächtigen.»
«Wem? Bella?», hustete Magnus. «Weshalb denn verdächtigen? Ich meine: wessen?»
«Dass du für diese anonymen Anrufe verantwortlich bist.»
«Ich? So ein Quatsch.» In Magnus schäumte eine stille, lähmende Wut hoch, wie neuerdings immer, wenn er etwas Neues über Annabelle erfuhr.
«Absurd. Ich habe sie natürlich nicht angerufen.»
«Ist klar.»
«Hallo? Ein helles Hefe, bitte.»
«Jetzt schon?» Jonna macht ihren spitzen Mund. «Na gut. Für mich auch, bitte. Und einen Korn.»
«Einen Korn? Hast du noch was zu beichten, Mädchen?»
Jonna lächelte. «Vielleicht?»
«O weh. Für mich bitte einen Wodka dazu. Und einen Korn. Danke.»
«Was ist denn das für ein Job, den du jetzt machst? Tankstellenzeitung hört sich so — ölig an», wechselte Jonna das Thema.
«Corporate Publishing nennt man das. Auf Deutsch: Worthurerei. So unternehmensinterne Zeitschriften, die an die Pächter geschickt werden, die aber nicht Pächter, sondern Partner genannt werden sollen.»
«Und du schreibst also über Getränke?»
«Ja. Unter anderem.»
«Warum so gereizt?»
Sein schlechtes Gewissen paarte sich immer mit einer Art trotziger Slacker-Arroganz, wenn Magnus über berufliche Dinge reden sollte. Natürlich dachte er auch irgendwie an die Zukunft, natürlich hatte auch er irgendetwas Richtiges vor, zum Beispiel, endlich seinen Film in Angriff zu nehmen, den er so lange schon plante, aber er mochte es auch, durch die Tage zu driften, ohne Ziel, ohne die sogenannten Perspektiven, und die Jobs anzunehmen, wie sie eben halbwegs kamen. Auf die Zielstrebigkeit der gestriegelten Juristen und BWLer und ihre jetzt schon geregelten Lebensläufe blickte er verächtlich hinab — ohne die Anflüge von Neid, die sich zu diesem Übermut gesellten, vor sich selbst zu verleugnen.
«Ich hör da doch schon heraus, was du denkst: Wann ich denn mal was Richtiges mache.»
«Ich finde, das ist mal was Richtiges.»
«Noch schlimmer.»
«Und sonst?»
Und sonst. Das hieß: Was ist denn mit deinen Plänen, was ist mit deinem Talent. Du warst doch mal so –
«Wird schon», raunzte Magnus.
«Geht das auch genauer?»
Dicht fiel draußen der Schnee. Freundliches Weiß legte sich auf die saubere Stadt und ihren nachweihnachtlichen Lichtsmog — die einzige Umweltverschmutzung, die sich dieses Mittelstandsnest erlaubte. Bonn war so sauber. Und klein, und offen. Und geheimnislos.
Magnus trank sein Weizen aus und bestellte ein neues. Er sah Jonna verstohlen im Wandspiegel an. Sah sie als Sinnbild einer besseren Vergangenheit. Hätte er es mit Jonna vielleicht einmal wirklich versucht, hätte er jetzt womöglich etwas zum Erinnern. Etwas Wahres, Schönes, Gutes. So hatte er nur etwas zum Vorstellen. Ob das besser war — wer konnte das wissen.
Nach einer zugleich verkaterten und ernüchternden Verabschiedung, die sich seltsam lang hingezogen hatte und am Ende dennoch unbefriedigend war, fuhr Magnus weiter Richtung Innenstadt. Diese Zeit zwischen den Jahren ging ihm auf die Nerven. Es war eigentlich keine Zeit, sondern eine taube Zeitlosigkeit, die sich da erstreckte zwischen den nutzlosen Feiertagen. Eine kugelförmige Unzeit. Und wie aufdringlich präsent die Vergangenheit in dieser hohlen Kugel war, dabei unscharf und nicht fassbar, wie Gott in einer Kirche. Er beschloss, nächstes Jahr in Berlin zu bleiben und, anstatt den langsamen Abstieg Bonns und seiner Einwohner zu verfolgen, sich zu Hause in Kreuzberg-Mitte wie alle anderen Weihnachtsverweigerer halb totzusaufen und dann auszugehen. Diese Aussicht besserte seine Laune, und federnden Schritts stieg er am Markt aus. Der U-Bahnhof wirkte so blendend geleckt, dass er gleich nochmals beschloss, nächstes Jahr in Berlin zu bleiben. «Doppelt hält besser», dachte er und wunderte sich über solche Worte.