Er kaufte sich am Kiosk eine Cola-Dose. Er sah einen Käfer, der ein Blatt trug. Er ging durch die Stadt. Wie klein alles war! Aber Magnus dachte nicht an Bonn dabei, sondern an die Welt.
«Guck mal, eine Spermazelle!» Die Asiatin machte ein süßsaures Gesicht. «Hat das was zu bedeuten? Werde ich etwa schwanger?»
«Für mich ist das eine Kaulquappe.»
«Oder ein Grottenolm.»
«Vielleicht wirst du blind und verlierst alle Haare.»
«Das ist eindeutig eine Suppenkelle. Ich tippe auf einen Aufstieg zur Oberkellnerin in Grunert’s Nachtcafé.»
«Eine blinde, glatzköpfige Oberkellnerin.»
«Schwanger mit einer gigantischen Kaulquappe.»
«Hua, hua.»
«Nein, dann doch lieber normal schwanger. Einfach so», flötete Aioko. «So wie ich bin. Oder, Patrick?»
Patrick warf Aioko einen liebevollen Blick zu und spitzte die Lippen, ohne zu pfeifen.
«Und ich? Was habe ich?»
«Du musst es selber rausfinden.»
«Wo steht das geschrieben?»
«Wir müssen los, bald. Eigentlich jetzt. Jetzt müssen wir los.»
«Dann bestell ein Taxi.»
«Mo-ment! Magnus muss noch seins kommentieren!»
«Also gut: Ich sehe darin einen Engel. Oder?»
«Oh, ohhhoh», Leif erwachte aus seiner Sufflethargie, «einen Engel sieht der Herr. Einen Engel des Lebens womöglich. Oh, oh.» Er nickte wieder weg.
«Einen Engel?» Aioko blickte verdutzt drein.
«Einen Engel, da sind die Hände, wie beim Gebet, und hier die Flügel.»
«Und wo ist der Kopf?» Patrick wollte es genau wissen.
«Den hat er verloren.»
«Nein. Hier.»
«Das ist höchstens ein Wirbel. Oder ein Haken.»
«Ich sag’s doch», sang Aioko, «der Engel hat seinen Kopf verloren.»
Im Taxi hörten sie den Soundtrack für das kommende Jahr: «I will survive» von Gloria Gaynor. Leif, nur ein schwarzer wankender Berg auf dem Rücksitz, sagte nichts. Patrick und Aioko machten daneben einen auf Schönwetter und Turtelraketen.
Lichter rauschten wirr vorbei, wie im Chungking Express, totale MTV-Ästhetik draußen, fand Magnus, alles so verwischt, alles so schön bunt hier. Einzelne Raketen wurden bereits abgefeuert und besprühten den Himmel. Der Taxifahrer wechselte, als Alphaville angesagt wurde, hektisch den Radiosender und blieb bei einem Klassikmix hängen, das Beste aus den letzten vier Jahrhunderten.
Die Party fand bei irgendwelchen Pfälzern, Sachsen oder Friesen statt: bei einer Studentenverbindung also, «auf dem Haus». Magnus fragte sich schon nicht mehr, was er hier suchte, zwischen Bleigießen und Papstgekotze. Er genoss es einfach, so weit weg von allem zu sein, das ihn ausmachte. Lily hatte ihn gebeten, mindestens bis Neujahr zu bleiben, denn sie fühlte schon eine zweite Depressionswelle heranrollen. Da hatte er einen Grund, träge hierzubleiben und die Zeit, die in Berlin weiterticken würde, außen vor zu lassen.
Tick ruhig, Zeit. Tick dich tot.
Sie fuhren vor und tollten aus dem Wagen, außer Leif, der sich seitlich aus dem Wagen rollte, endlich aufstand und sich erst einmal im Schneegestöber verlor. Sie taperten weiter in den Vorgarten einer prächtigen Villa, an deren Empfang sie von ein paar Jungs mit dünnen Schärpen und feisten Gesichtern halb freundlich, halb argwöhnisch begrüßt wurden. Einer hatte sogar einen Schmiss.
Jonna würde auf der Party sein. Rieke wahrscheinlich auch.
Der erste Bekannte, der Magnus drinnen ins Auge fiel, war natürlich Erik. Überlebensgroß stand er da, trank ein Bier, strahlend im abgedimmten Licht, umgeben von konservativen Party-Elfen und Arm in Arm mit irgendeinem Düsseldorfer Typen, den Magnus dunkel von einer langverglühten Karnevalsparty in Köln kannte und allein wegen seiner versoffenen Visage zugleich liebte und verachtete. Die beiden exten ihr Kölsch auf eine Art und Weise, die Magnus verräterisch vorkam. Sie schielten verkrampft nach allen Seiten, warfen den Kopf gockelhaft in den Nacken, versuchten gleichzeitig zu trinken und zu grinsen, weshalb ihnen Rinnsale coolen Biers aus den Mundwinkeln liefen und die Button-down-Krägen einnässten. Sie brachten ihre Verbrüderung hinter sich wie Öffentlichkeitsarbeit.
Magnus wechselte verwirrt die Gehrichtung, suchte Aioko und Patrick, um nicht ganz so haltlos herumzutitschen, und lief dabei geradewegs in Eriks große kleine Schwester hinein, deren Name ihm in diesem Moment leider partout nicht einfallen wollte. Nur das dezent beperlte Dekolleté und die imposanten, fast schon zusammengewachsenen Augenbrauen, die erkannte er sofort.
Magnus sagte etwas zu ihr, und dann noch etwas, und ging endlich weiter, und fühlte sich ganz nackt: getrieben wie ein Tier.
Er holte sich ein Bier, öffnete es und trank.
Er setzte sich wohin und ließ sich von der flachen Siebziger-Musik einlullen. Eine winzige Blessur an seiner Oberlippe brannte.
Raue Kehlen gaben gutturale Laute von sich, die sich vermengten und schwerer, härter wurden; eine Wand aus Stimmen und Gelächter, die wuchs, heranwuchs, näher kam. Lachen pappte zusammen und verstopfte die Gehörgänge; alles wurde dumpfer, ohne sich zu entfernen; alles buk zusammen, zu einem klumpigen Brei, wie zähe, erkaltende Lava. Erstarrte.
Trinken. Bekannte begrüßen. Weitergereicht werden. Gespräche bestimmen. Lachen. Lächeln. Abwägen, ausbrechen. Der Raum füllte sich. Die Musik wurde weiter aufgedreht. Paare begannen zu tanzen, Friesenrock, eine in Adelskreisen übliche Korsettversion des Rock’n’Roll. Magnus sah die Tänzer in ihrer gestanzten Ekstase, die Glieder, die herumwirbelten in vorgefertigten Bahnen, die blonden Seitenscheitel, immer wieder in die gegelte Position zurückgeworfen, die Gesichter, die sich alle so ähnlich waren um den Mund herum, schmallippig, eingekerbt, von angestrengter Freude verzerrt. Aus all diesen jungen und schon so alten Gesichtern sprach nichts als die blanke, sich ihrer selbst bewusste Frechheit. Eine jahrhundertealte Frechheit, dachte Magnus, eine durchgereichte Frechheit über die Generationen hinweg. Jeweils nur geliehen von den Eltern, welche in jedem frechen Grinsen, jeder hochgezogenen Augenbraue durchschimmerten, als Blaupause, als Morphvorlage. Jede Generation war nur eine Stufe der Verwandlung des Immergleichen. Diente nur dem ewigen Schulterschluss von Großeltern und Enkeln.
Da war Erik wieder, in seinem Jankerl. Führte galant eine hübsche Laura-Ashley-Blondine herum, ein Tippi-Hedren-Imitat, das sich bei ihm untergehakt hatte und Augen machte, als würde ihr gerade die ganze Welt zum ersten Mal erklärt. Erik redete unentwegt, aber kontrolliert auf sie ein. Sein Blick sprang ruhig von einem Objekt zum nächsten, glitt manchmal seiner hübschen Begleitung übers Gesicht, dann wieder in den Raum zurück, so als sei er der Gastgeber hier und müsse alles checkermäßig unter Kontrolle haben. Schließlich blieb der Blick auf Magnus hängen und hellte auf. Er hauchte der Blonden erst etwas ins Ohr, dann auf die Wange. Sie quittierte es mit einem Lächeln, das entzückt und abgebrüht zugleich war. Er ließ sie stehen und kam herüber.
«Wie geht’s, Taue, noch immer in der Stadt? Korrekt! Dann lassen wir gleich die Korken knallen», sagte Erik.
«Jo. Dann lassen wir paar Böller los», sagte Magnus. Eriks Augen lagen ruhig und bestimmt auf ihm, als wollten sie seinen Blick im Zaum halten.
«Karen ist auch da», sagte er, «hinten im Garten, aber Vorsicht, ist Glatteis auf der Veranda. Hat sich gerade schon einer hingelegt, aber volle Kanne.» Was sollte das bedeuten? Karen, im Garten? Wer war Karen? Glatteis, hingelegt? Was wollte er sagen? Oder war das alles wörtlich gemeint?
Sie prosteten sich zu.
«Was hast du denn für Feuerwerk dabei? Hoffentlich was Verbotenes, frisch aus Asien, ja?»