Aber wahrscheinlich war das gar nicht der Himmel, sondern nur der Smog, der über der Stadt hing. Wahrscheinlich hatte sich der Himmel selbst ganz zurückgezogen, und man konnte ihn nicht mehr sehen, was Laura nicht bedauern würde. Der Himmel musste immer schon herhalten für die grotesken Projektionen der Menschen, so Laura. Für ihre jenseitswütigen Hirngespinste, die das All einfangen und umspannen wollten und sich dabei doch nur seit je an der eigenen Schädeldecke wund gestoßen hatten. Vielleicht hatte sich der Himmel angesichts all dessen tatsächlich, total gelangweilt, aus dem Staub gemacht, wenn es ihn je gegeben hatte, und nur ein Gähnen hinterlassen, ein grundloses Gähnen. Und was die Menschen anbeteten, wäre nicht mehr der Himmel, sondern sein weltlicher Stellverteter, der Smog, die dicke, chemische Suppe über den Städten. Und im Smog, in ihren eigenen Abgasen, in ihren Fürzen, würden die Menschen die Verheißung suchen, und die Offenbarung, und das ewige Leben. Und hätten vielleicht auf eine ganz perfide Weise recht mit dieser Vermutung.
Laura öffnete die Wunde, gelbe Kristalle bröckelten ab, es sickerte heraus, es brannte hölle. Sie beeilte sich, tupfte alles ganz vorsichtig ab, Eiter und Wasser wurden vom Handtuch aufgesogen, von den noch weichen, flauschigeren Stellen. Weißgelb und feucht glänzte es, das kleine Fenster zu ihrem Fleisch. Sie verband die Hand ganz ordnungsgemäß und klammerte den Verband zu. Sie schloss die Vorhänge, damit sie der silbrige Abglanz von draußen nicht mehr belästigen konnte. Die Verkehrsgeräusche waren ganz nah. Draußen derselbe Himmel wie immer, nur dunkler.
Samstag, 11.50 Uhr Hast Du Angst? Deine Mail klang trotz der Liebesgeständnisse so distanziert und absichtlich entleert. Oder ist das nur die Art, wie ich sie lese? Und so kontrolliert, blosz nichts verraten, nicht verletzbar werden. Vorher warst Du mir näher. Du scheinst diesen Zustand zu mögen. Ich nicht. Du liest Schauspielerbiographien? Manche müssen ihr Glück wohl zerstören, um es zu bemerken. Und schon hat der Brief, den ich jetzt an Dich schreibe, einen vorwurfsvollen Unterton, den ich verhindern wollte. Wenn er diesen Unterton jedoch nicht bekommen hätte, würde ich das, was mir nicht gefällt, nur weiter fortführen und nähren: diese wachsende Distanz durch Trägheit bei gleichzeitigem Geständnis, man sei noch immer ach so verliebt; und dieses Geständnis allein soll für Nähe herhalten. In mir pendelt es zwischen zwei möglichen Haltungen. Einerseits, es — wie Du — einfach so weiterlaufen zu lassen, bis es sich wahrscheinlich leer- und totgelaufen hat; andererseits zu versuchen, Dir mitzuteilen, dasz ich mehr will als das, zu versuchen, trotz der Distanz, die auch Du doch spüren muszt, Dir näherzukommen. Und dieser Brief, den ich gerade schreibe, ist wohl so feige, weder das eine noch das andere entschieden genug zu machen. Ich habe die Heizung voll aufgedreht, mir ist trotzdem kalt; an meinem Körper prallt die Wärme ab. Ist Dir wirklich alles so scheiszegal, wie Du tust?
Samstag, 14.45 Uhr Oder bin ich einfach nur überspannt und will nicht sehen, dasz die Art, wie Du mit der Sache umgehst, die klügste, beste, einzig mögliche ist, die einzige, die nichts zerstört? Ohne den Zwang, sich in etwas hineinsteigern zu müssen, von dem nicht mal mehr klar ist, ob es überhaupt noch da ist? Steigere ich mich nur in die Dinge hinein, weil ich es nötig habe, mich innerlich irgendwohin hochzuschrauben, wo ich einsam und überlegen meinen Schmerz auskosten kann, den ich einzigartig wähne? Dabei geht es bestimmt jedem und jeder Zweiten so wie mir. Vielleicht bin ich nur auf der Suche nach einer Qualität in der Liebe (und also im Leben), die es nicht gibt. Aber wieso gibt es das, diese Leerstellen, in die ich falle? Es musz einmal irre Verheiszungen gegeben haben; und jetzt sind da nur noch leere Formen und dicke Schwielen, da, wo den Menschen einst glühende Versprechen in die jungen Hirne gebrannt wurden. Wahrscheinlich sind meine Vorstellungen darüber, wie das hier laufen könnte, wir nämlich, falsch; es geht nicht unbedingt mehr um pure, reine Liebe dabei; wahrscheinlich ist so etwas von vorneherein zum Scheitern verurteilt, und obwohl ich das wuszte, war es mir nicht bewuszt; es geht vor allem darum, das wenige, was ich noch von Dir weisz, nicht zu verlieren und verdrängen zu lassen, selbst zu verdrängen, von falschen Vorstellungen überdecken zu lassen. Aber Du gibst eben auch nicht viel von Dir preis. Wahrscheinlich sind wir doch andere, als wir dachten; ich bin eine andere als die, die Du Dir vorstellst, wenn Du an mich denkst; Du bist ein anderer als der, an den ich schreibe. Diese Erklärung ist einfach und liegt auf der Hand; sie ist verbraucherfreundlich; sie stand aber, für meine Begriffe, zu schnell zwischen uns, wir haben sie uns zu schnell zunutze gemacht, haben uns darauf ausgeruht, im Glauben, wir könnten eh nichts daran ändern. Das aber ist mir zu billig. Dieser Brief, den ich schreibe, ist ein Versuch, eben doch noch etwas daran zu ändern; vielleicht ist er ein Fehler. Montag, 18.47 Gerade war ich plötzlich wieder bei mir und bei Dir, in einem Raum voller Bilder. Mit dem Mund hast Du mich aufgesammelt, ohne grosze Worte, mit Küssen. Warum ist das nicht immer so? Ich konnte mich kaum regen, noch was sagen anfangs, später auch nicht, ich war nur froh, kurz bei Dir zu sein. Ich finde die Dias von Griechenland auch lustig, ja, und irgendwie bin ich gerührt davon, dasz Du sie neu rahmst. Jetzt geht’s mir gut. Ich weisz, wo Du bist, und ich weisz, was Du tust: Du flickst Lichtbilder neu zusammen. Dienstag, 10.12 Uhr Ach, ein Tag! Ich gehe los und suche unsre Schritte. Donnerstag, 10.16 Uhr Du hast was dagelassen, unterm Kissen, in Stanniolpapier eingewickelt. Jetzt sind die Dinge unseres Zimmers mit Schokolade überzogen, eine feine Glasur glänzt noch auf dem kleinsten Staubkorn. Die Schokolade ist mir gleich in den heiszen Händen geschmolzen, vor Freude. Schnell die Treppe hoch habe ich in meinem Arbeitszimmer mir mein Gesicht braun eingeschmiert und aus dem Fenster geschaut und gedacht: So müszte alles versüszt werden. Die Schokolade ist nicht häszlich abgebröckelt, sondern leise verdunstet von mir. Jetzt riecht mein Zimmer gut, und die Glasur setzt einen guten Schimmer: Ich schiebe Meister-Proper-Sterne auf meiner Haut herum. Donnerstag, 13.48 Uhr Was soll das wieder? Mein Körper hat mir gerade einen üblen Streich gespielt, ohne irgendeinen grippalen Infekt oder so, ohne Virus, einfach so zwängt er alle Flüssigkeit, die in ihm ist, aus sich raus, durch Schwitzen, Durchfall, Erbrechen, erstaunlich viel Flüssigkeit. Meine Organe müssen aussehen wie getrocknete Datteln! Ich werde mich fürchterlich rächen, ich weisz noch nicht, wie. Ob mein Körper das hier auch lesen kann, weil ich es ja lesen kann? Mein Gehirn gehört, banaliter, schlieszlich auch zu ihm …! Ist er klüger als ich? Wer weisz mehr über den anderen, ich über ihn oder er über mich? Donnerstag, 14.00 Uhr Jetzt fühle ich mein Herz, da wo die Enge ist. Ich will mein Herz nicht fühlen. Herz: da wo die Enge sitzt. Ich spüre, wie sich der Herzschlag beschleunigt, Systole, Diastole, Erschlaffung, Dehnen. Herzklappen gehen auf, zu. Das Blut schiebt sich in Stöszen durch die Aorta. Das Blut rauscht durch meine klopfende Schlagader. Donnerstag, 15.01 Uhr Der Brief an Dich ist fertig, und plötzlich weisz ich nicht, ob ich ihn überhaupt abschicken soll. Ja, der Brief ist ein Fehler. Vielleicht habe ich ihn gar nicht an Dich geschrieben; hoffentlich doch. P.S.: Wenn Du doch mal einen Fehler machen würdest. Donnerstag, 16.11 Uhr Mit Maja telefoniert. Sie kommt morgen. Mit boyfriend. Auch das noch. Mein Schwesterschmerz kommt. Mein Geschwist. Donnerstag, 18.36 Uhr