Samstag, 8.51 Uhr halbe Hauben Placebo-Placebos Wundrand randwund Herzgehirnkörper Hautsicherheit
«Na, das sind ja auch nur Muskeln», antwortete Maren und schob sich noch ein Stück Spanferkel in den Mund.
«Hm? Was?»
«Das sind ja auch nur Muskeln, die wir essen, wenn wir Fleisch essen.»
«Quatsch. Das sind doch keine Muskeln. Ich esse doch keine Muskeln.» Laura schob sich eine Gabel Eiersalat in den Mund. In Wahrheit sind es die Eier, die wie Gummi schmecken, dachte sie.
«Na klar, was denn sonst. Das sind doch nur Fett und Muskeln.»
«Was? Muskeln sind doch weiß und wie kleine Hügel.»
«Ja, was denkst du denn dann, was das ist, was ich hier esse?»
«Fleisch!»
«Fleisch ist Muskeln, Laura! Das ist nichts anderes als Fett und Muskeln.»
Sie verstand wirklich nicht, was Maren meinte. Oder sie verstand es, wollte es aber nicht wahrhaben. Es gab kein Fleisch? Wieso hatte ihr das nie jemand gesagt? Laura stellte sich das Bein eines Schweines so vor: Knochen, Muskeln, Fleisch und Fett. Und am besten schmeckte natürlich das Fleisch. Die Muskeln waren nur Abfall, für Laura, die Knochen auch, das Fett nur für Sülze tauglich, oder für perverse Feinschmecker.
«Es gibt kein Fleisch. Es gibt nur Fett, Muskeln, Sehnen und Knochen. Und Nerven, und Drüsen. Haut und Haar. Aber kein Fleisch.» Maren schmunzelte. «Kein Wunder, dass du Vegetarierin bist!»
Wie komisch, dachte Laura. Irgendwie war sie also tatsächlich Vegetarierin. Weil sie noch nie das gegessen hatte, was sie sich unter Fleisch vorstellte. So ein Osterhasenglauben! Sie musste auch schmunzeln. Neben ihr hielten zwei Ex-Modster ein Mini-Seminar über Star-Wars-Figuren ab. Sie schnappte ein paar Fetzen auf und konnte nichts mit ihnen anfangen. Ein mit Military-Klamotten ausstaffiertes Girlism-Girl zog langsam, wie in der Schwebe, vor ihrer Nase vorbei und hielt einen Blue Curaçao in der Hand. Überall standen Menschen und redeten, lachten, nickten, an Wände gelehnt, Rippen knuffend, Küsse austauschend. Eine Party, voll im Gange. Ohne Thorsten. Ohne alle.
«Also ist Fleisch irgendwie — abstrakt?», fragte Laura.
«Ja, wenn du so willst», antwortete Maren.
Montag, 3.54 Uhr Scheisze, diese Hülse wird niemals Frucht tragen. Diese Hülse nicht. Bei einer solchen Veranlagung wie der meinen musz man sich das mit dem Kinderkriegen zehnmal überlegen. Da wird Auto-Eugenik zur Selbstverständlichkeit. Keinem wünsche ich das. Keinem. Wie dann erst meinem Kind. Der Mensch ist zum Mantel geworden, o ja, aber ich habe keine Lust, ihm als Garderobe zu dienen.
Laura wurde beäugt und beäugt. Keiner traute ihr mehr.
Sie ging auf eine Party, und noch auf eine, und dann auf eine weitere, irgendwo. Sie lernte Leute kennen, denen sie insgeheim ins Gesicht spucken wollte. Sie küsste wen. Sie stürzte ab.
Sie schlief mit wem, fast bewusstlos.
Sie wollte die Schuld, die in der Luft lag, auf sich ziehen.
Es gelang ihr nicht.
Schließlich nahm sie wieder ein Messer zur Hand. Aber sie steckte es nur in die Handtasche.
Sonntag, 13.45 Uhr Was ist passiert? Was ist blosz passiert. Bin ich gestorben? Ich fühle mich nicht, ich fühle nur meinen Körper, selbst der stirbt ab. Ich bin schon tot. Eine grosze Panik kommt wieder über mich, in diese kalte Wüste. Alles ist weisz hier. Wo unten, wo oben? Meine Wunde lasze ich jetzt offen. Der Schmerz reicht nicht. Was ist passiert? Ich habe mit einem Fremden geschlafen. Bin ich eine Nutte? Dreckig hat sich mein Innerstes um seine Lust geschloszen, hat sich um ihn gewunden, ist um ihn rotiert. Wir sind auf den Dachboden von diesem Haus gegangen und haben es, in einer Art Kabine, einfach gemacht. Ich dachte noch, ist das die Rache jetzt; oder ist das einfach nur die Tat. Habe währenddessen, während ich mich vornüberbeugte und er mich wie ein Tier nahm, einem anderen Paar zugehört, das es auch gemacht hat dort oben, oder kam es mir nur so vor, und dabei einen Bierkastenturm beobachtet, wie er leicht wankte, und habe überlegt, ob das von uns, vom Paar nebenan, vom Beat, der das ganze Haus erschütterte («rockte», wie der Typ, mit dem ich fickte, sagte), oder von all dem zusammen kam; dieses Wanken des Bierkastenturms. Habe ich etwas gefühlt? Die Erinnerung kommt nur langsam. Was war danach? Sonntag, 14.05 Uhr Ohh, näh! Weil ich so oberflächlich bin/kehrt sich mein Innerstes nach auszen. Maja ist nicht hier, Dad auch nicht, und Thorsten kippt sich zu mit billigem Aldisekt und mit teurem Voltax und mit Batida de Coco und mit Telefongesprächen. Und besänftigt seinen Kater mit Migräne-Kranit. Er scheint Angst vor mir gehabt zu haben, als ich eben in die Küche gegangen bin. Er hat mich kurz und fragend angestarrt, dann, als ich seinen Blick erwiderte, schnell wieder weggesehen und sehr konzentriert in den Telefonhörer gehört, genickt und sehr ernst «ja, ja» und «genau, du hast wohl recht» gesagt. Ich möchte nicht wie meine Mutter werden. Und nicht wie Maja, nicht wie Dad, nicht wie Thorsten. Er gibt mir so viele Tabletten und Alkohol, damit ich ihm seinen eigenen Konsum nicht vorwerfen kann. Macht mich süchtig, damit seine Sucht nicht einsam ist. Ich will nicht wie meine Mutter werden. Ich bin leider schon so. Dieses Sich-nicht-Eingestehen, dasz etwas total falsch läuft, dasz etwas von Grund auf neu überdacht und umgeworfen und anders gemacht werden müszte — das ist uns allen gemein. Anstelle dessen: die ewige Betäubung. Und das Flüchten von einer Beziehungs-Simulation in die nächste. Anstatt, dasz jeder sich selbst ins Gesicht schaut und zu erkennen versucht, was da grundsätzlich falsch läuft, versucht man jeden krummen Augenblick noch weiter umzubiegen, in eine taube, ins Hysterische neigende Fröhlichkeit hinein, im Morgenmantel, mit dem Cocktailschwenker in der Hand. Ich halte das, sie und vor allem