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mich: nicht mehr aus. Das Wort, das ich am meisten hasze, ist das Wort «eigentlich». Es ist so überpräsent in meinem Leben. Was heiszt «eigentlich»? Beschreibe das Wort «eigentlich», ohne es zu benutzen. Alles ist uninteressant. Das Treffen mit Leuten, die Leute selbst, die Gespräche. Ich habe den Leuten nichts zu erzählen, sie mir nicht; ich ziehe mir immer die Scheisze aus der Nase, damit die Illusion eines Gespräches erweckt wird. Weiterhin ist uninteressant: Das Essen. Das Trinken. Das Autofahren, das Spazierengehen. Das Fernsehen! Irgendwelches Herumlesen in jahrzehnte-, gar jahrhundertealten Romanen, alles die letzte Scheisze, hat mir alles nix zu sagen. Sprachenlernen. Talkshowzapping. Masturbieren. Nichts ist interessant. Die Sonne nicht, der graue Himmel, das seichte Gewölk, Kumulus, Zirrus, Quelle und Schaf und Zahl, wasweiszich, nixweiszich. Die Nacht, der Tag. U-Bahn-Fahrt, Supermarktgang, Telefonzellenphlegma. Spiele spielen. Liebe machen. Worte sagen. Die Nachrichten, die Kriege, der Frieden. Die Zusammenhänge. Die Suche nach den «Thrills». Das Gähnen. Die Uhr. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das Amt des Präsidenten. Amerika. Die Medien und irgendeine Medienkritik. Sonnenuntergänge. Zeltlager. Luftschutzbunker. Partykeller. Die Partys und die Partypartys. Die Partypolitik. Frauen und Männer, Homos und Heten. Ekel, Wahn, Staat und Körper. Ekel ist langweilig, Wahn ödet an. Staat stirbt innen. Körper west auszen. Ich sein, sein, etwas sein. Alles nichts! Im Prater blühn wieder die Bäume. Und am Alex werden sie bald wieder Beachball spielen. Sonntag, 14.35 Uhr Ich hätte nicht übel Lust, mich zu schneiden. Aber diesmal kein Pipifax und Kinderquatsch mit Michael mehr, sondern richtig: nicht nur die Wunde auffrischen, sondern den ganzen Arm versehren, oder die Beine. Es gibt eine History der Selbstverstümmelung. Meine Geschichte fing in der Schule an, genauer bei einem Völkerballturnier in der siebten Klasse. Ich war verliebt in einen Typen aus der 7b, der verhaszten Parallelklasse, Roderich hiesz er, war schüchtern, sehr hübsch und angeblich klug — das Gegenstück zu mir! Wie viele Nachmittage habe ich an ihn gedacht. In der Schule aber habe ich ihn keines Blickes gewürdigt. Erstens war er ein Junge, zweitens aus der b. Am Nachmittag des Völkerballturniers nun schnitt ich mir mit Majas Schweizer Taschenmesser (sie war damals Pfadfinderin und hatte es bei einem Wochenendbesuch dabei, um anzugeben, dann vergessen) in die Beine. Auf dem Wohnzimmersofa sasz ich, keiner war zu Hause, das kalte Leder wurde unter meiner Hitze warm. Feine Schnitte setzte ich, ganz kleine, kaum schmerzende; aber beide Beine, vor allem die Waden, waren schnell davon übersät. Nur im Augenblick des Einschnitts tat es weh; und ich war stolz auf diese kleinen Schmerzen, widmete sie Roderich, voller Teenagerliebe. Ich wollte wohl irgendwie auf mich aufmerksam machen, ohne ihn direkt anzusprechen. Neonschweiszbänder oder sprieszende Brustknospen hatte ich nicht — so erschien es mir ganz natürlich, mich auf diese Weise interessant zu machen. Jedenfalls glaube ich, dasz das die Beweggründe waren. Leider hat mich beim Völkerballturnier dann kein Mensch auf die Wunden angesprochen, und Roderich hat mich nur so unterschiedslos angeschaut wie alle anderen. Kreischende Kinder sind in Wellen immer von der einen Spielfeldseite auf die andere geschwappt. Ich bin ziemlich früh ausgeschieden und konnte mich bis zum Ende des ersten Spiels nicht wieder freiwerfen. Nach dem Spiel bin ich zum Wielpütz gegangen und habe mich entschuldigt, mir sei nicht so gut, ich müsse nach Hause. Ich hatte keine Lust mehr auf die Albernheiten.
Sonntag, 15.10 Uhr Eine leere Auster gehe ich, Blumen treffen mein Auge. Krähen kamen, kopflos die Leiche. Geister schluchzen auf dem Plan, ob ich hinhör oder nicht. Sonntag, 15.33 Uhr Maja und Dad sind gekommen. Sie reagieren genauso komisch auf mich wie meine Mutter. Sie scheinen mich hinter meinem Rücken zu beobachten. Wie lange schon? Irgendetwas musz gestern passiert sein. Normal verhalten die sich nicht. Ich kann mich noch immer nicht erinnern. Meine Hand zittert. Das macht mir gerade Angst. Ich habe sonst niemals Filmrisse. Ich kann mich sonst immer an alles erinnern, was ich dann nicht als angenehmes Schicksal empfinde. Aber so will ich’s jetzt auch nicht haben. Vielleicht soll ich diesen Typen anrufen, den Taxifahrer? Er ist die letzte Erinnerung, die ich habe. Dann bin ich hier in meinem Bett aufgewacht. Ich weisz nicht mal mehr genau, wie er aussah. Neben mir auf dem Bett liegt der blasse Kassenbon mit seiner Nummer hintendrauf. Ziemlich kindliche Schrift, halb Schreib-, halb Blockschrift. Ich kann mich nur noch an das Gefühl erinnern, wie wir miteinander gesprochen haben. Das war ganz schön. Und der Sex war auch nicht so schlimm. Ich habe etwas gefühlt. Ich hatte keinen Orgasmus, aber ich habe etwas gefühlt. Du? Thorsten? Du warst doch auch auf der Party, oder? Hast Du vielleicht gemerkt, dasz ich mit einem anderen rumgemacht habe? Hat es Dir vielleicht wehgetan? Hattest Du vielleicht ein kleines Stechen im Herz? Sonntag, 16.43 Uhr Es sei inkonsequent, sich selbst zu schneiden, Selbstverstümmelung sei inkonsequent. Entweder man bringe sich gleich um oder man lasse es. Was das solle. Diese Umwege. Wofür die gut seien. Dad hat mit mir geredet. Er hat nichts von den Sachen gesagt, die ich gerade gesagt habe, aber er hat gesagt, dasz ich heute Morgen total vollgekotzt nach Hause gekommen sei und gezittert und gewimmert hätte. Maja sei da gewesen und habe sich um mich gekümmert. Daran erinnere ich mich jetzt. Vorher musz ich Anton angefallen haben, ich sei auf Majas und Antons Bett (das Gästebett) gesprungen und hätte auf Anton eingeschlagen und versucht, ihm die Augen auszukratzen, mit meinen Fingern, die schon blutig waren. Meine Finger seien schon blutig gewesen, bevor ich mich auf Anton gestürzt hätte. Ich weisz, dasz da irgendein Horror mit mir abging. Ich wage es kaum zu denken, aber ich glaube, ich habe Heroin genommen. Aber da sind keine Einstiche in meinen Armen. Was soll das, ich bin keine Nico, keine Sixties-Drug-Queen, Heroin ist nicht meine Welt, noch nicht, noch nicht. Ich konnte kaum reden, merkte, dasz mein Sprechen sich sehr wirr und verdattert anhört. Ich muszte die Silben einzeln zusammenkleben, und ein schiefes Flickwerk kam dabei heraus. Ich verhaspelte mich pausenlos, wenn auch im Schneckentempo. Krank. Mein Dad war sichtlich besorgt. Mit jedem seiner Worte wurden immer gröszere Erinnerungsfetzen herangeschwemmt, wie Treibgut. Ihr naht euch wieder, krankende Gewalten — Sonntag, 17.51 Uhr Elfe: Wo warst du denn plötzlich? Ich: Wieso plötzlich? Habe ich mich denn nicht verabschiedet? Elfe: Nein! Bist du mit diesem Typen abgehauen, mit dem du dich vorher die ganze Zeit unterhalten hast, oder was? Sehr verdächtig. Naa? Ist was gelaufen …? Bahnt sich da was an …? Ich: Och der, nö, der hat mich nur nach Hause gebracht. Elfe: Jaa? Und weiter? Ich: Nichts weiter. Und du muszt reden. Du hast doch plötzlich diesen Jonathan ganz wild abgeknutscht … Elfe: Kein weiteres Wort darüber. Lachen. Elfe: Aber warum bist du denn so schnell —? Ich: Mir ging’s plötzlich nicht so gut. Elfe: Ja. Kein Wunder. Wie geht es dir denn? Ich hatte heute ziemliches Nervenflattern. Du? Ich: Ich auch. Wart mal, da ist noch jemand in der Leitung. Bleibst du dran? Elfe: Ja. Ich: Scheiszanklopffunktion. Oder, ich rufe dich besser später zurück, ja? Ich muss gleich essen, mit der Family. Elfe: Okay. Ich: Ja. Bis gleich. Und drücke sie weg und lasse mich zurücksinken. Ich tupfe mir den Schweisz von der Stirn. Kalter Schweisz natürlich, was sonst. Was denkt denn ihr. Sonntag, 19.10 Uhr Das Essen war so scheisze. Sie wollen mich jetzt zum Psychiater schleppen, ins Krankenhaus gar. Sie stellen selbst Fragen, Psychiaterfragen light. Sie wollen wissen, was passiert ist. Nichts ist passiert, sage ich und denke, das ist ja die Scheisze, dasz nichts wirklich passiert, auszerhalb des kleinen Schlachtfelds zwischen meinem Körper und mir, meinem Körper und mir, aber das kann ich ja keinem erzählen …