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«Oft rede ich mir ein, ich hätte sie auf die harmlose und beiläufige Art vergessen, mit der ich auch anderes vergessen habe. Normale Dinge. Einen Sturz von der Schaukel, eine rabenschwarze Unterrichtsstunde, einen Karnevalskuss, einen schweren Abschied, auch Sex. Sex, der erst im Nachhinein, mit den Jahren, wegdriftete, unauffindbar und namenlos wurde.» Klick.

Klick. «In Wahrheit habe ich sie, sagen wir, selten vergessen.» Klick.

«Jemand kommt zu mir und erzählt mir etwas, etwas über mich. Was ich da und dort getan habe, wo er eine Spur fand, die auf mich zurückverweist, was er gehört habe und was gelesen, und ich sage: Ja? Das habe ich nicht mehr gewusst. Ich erinnere mich jetzt wieder an das, was du da erzählst, aber es war bis zu diesem Augenblick verschwunden. Dann überzieht eine Mischung aus Angst und Mitleid sein Gesicht.»

Klick. Klick. «Das ist so wie mit den Dingen, die man im Rausch erlebt hat, erkläre ich dann. Manche weiß man noch. Viele weiß man nicht mehr. An die meisten erinnert man sich wieder, wenn ein anderer sie neu erzählt oder ein bestimmtes Detail erwähnt. Dann kommen die Bilder zurück, und die Gedächtnisspur wird neu bespielt mit etwas, das sich schon auf ihr befunden hat, auf das der Zugriff nur versperrt und das im Begriff war, sich ganz auszulöschen.» Klick.

«Ich mag den Rausch, versteh mich nicht falsch. Ich mag ihn sogar mehr als alles andere. Er lässt den Augenblick wuchern und löscht ihn dann aus. Perfekte Prozedur. Ich gebe mich noch heute oft dem Rausch hin, wie einer Geliebten, deren Küsse ich genau dosieren kann, ohne dass sie dadurch ihre Attraktivität einbüßte.» Klick.

«Und —»

Klick.

«Aber —»

Klick.

Klick. Klick. Klick. «Diese Dinge — », klick. «Diese Dinge, die erst wieder als Witz auftauchen, wenn Bekannte beim Bier zusammensitzen. Gerade gestern wieder. Schräge Anekdoten, die nur schemenhaft erkennen lassen, woher sie kommen. Die, losgelöst vom Hintergrund, Extravaganz und Leichtigkeit ausstrahlen. Andere Dinge, die gleich danebenliegen, die sie einrahmen, werden nicht besprochen, weil sie peinlich sind, weil man sich vor ihnen erschrickt. Doch sie schwingen mit, und ich erschrecke, obwohl es doch ein Witz ist, ein Witz, ein Witz, nichts weiter.» Klick. Klick.

Klick. «Ist es dir auch aufgefallen, hier in Berlin, in Berlin und anderswo? Ich kann sie gar nicht mehr zählen, die Irren. Ich kann sie nicht mehr sehen. Mir als Betroffenem sind sie nah und doch am fernsten. Wenn sich einer mit der Handkante wutentbrannt gegen die glänzende Stirn schlägt, etwa. Wenn sie in den U-Bahnen die Fenster beschimpfen. Wie sie dem Straßenlärm lauschen und dazu tanzen oder boxen oder weinen.»

Klick. «Nur, was mir damals passierte, das war kein Rausch. Und dennoch ließ es die Augenblicke wuchern wie wild. Und löschte sie gleichzeitig aus. Und beides mit großem Getöse. Und ich war ja auch wie betrunken, monatelang.» Klick. Klick. «Und die Gedanken wucherten in meinem Kopf. Und fast hätten meine Gedanken mich schließlich selber ausgelöscht.» Klick. «Aber vorher löschten sie die Welt aus, so wie ich sie kannte.»

Klick.

«Und das ging so.»

Es war bereits August. Der Herbst stand vor der Tür. Davor, erneut, eine Sonnenfinsternis. Eine subkutane Hysterie hatte sich festgesetzt. Magnus bildete sich ein, diese Hysterie sei unter dem Teer der Stadt, fast schon mit den Füßen, den Schritten wahrnehmbar; vielleicht aber war es auch nur sein eigenes Blut, das anfing zu köcheln. Die Tage waren eingebettet (wie Schlammbälle in leichtem Samt, oder wie ein magentafarbener Juwel in Erbrochenem, also das Ätzen im Glänzen und umgekehrt) in ein hochelektrisch mit Bedeutung aufgeladenes Zeitgeflecht, unerträglich gespannt. Jeder Verlust war ihm ein Gewinn, jeder Schmerz eine Erkenntnis. Nervöse Tage triumphaler Leere, sinnvollen Herumirrens und fast schon wieder manischen Arbeitens am Drehbuch wussten noch nicht, ob sie es waren, die passierten, ob sie als Summe das Ereignis waren, das unverkennbar in der Luft lag, oder ob sie nur das noch ausstehende Ereignis, das dann mindestens ein heiliges sein würde, vorbereiteten: sich beispielsweise unbemerkt bündelten und auf einen einzelnen Zeitpunkt hin zuliefen, im Verjüngungskanal mit dem berühmten Licht am Ende, das vielleicht, wie es der Witz sagt, nur der Scheinwerfer der entgegenkommenden Lokomotive wäre; wo dann aber alles, wirklich alles klar und deutlich vor einem stünde, die ganze phantastische Wahrheit sich unaussprechlich zeigte, in einer bombastischen Implosion kurz vor dem Scheitelpunkt der bisherigen Laufbahn (ich muss doch eine Rakete sein und ein Geschoss, ich muss doch ein Gleißen sein und tausend Geschosse, die sich in alle Himmelsrichtungen verlieren), und er würde überrollt oder erleuchtet, nichts dazwischen, entweder tödlich überrollt oder ganzheitlich erleuchtet, keine Grauzonen mehr, die Koordinaten wären fix.

Oder war es so, dass die Tage eine Spirale ergaben? Und wenn ja, drehte diese Spirale sich nach innen oder nach außen, oder verpuffte zum End?

Erweckungserzählungen von Erfüllungsstunden in hitzigen Büchern hatten sein Hirn auf die Folter gespannt. Die Metaphern schossen durcheinander. War denn, was geschrieben stand, wahr? Gab es diese Momente bestürzender Klarheit, plötzliche Blitze und Wallungen, die das Vorhandene kurzzeitig zersetzten, in der Halbwertszeit zwischen Blick und Blick?

In den Jahren nach dem Abitur hatte Magnus eine seltsame Fähigkeit entwickelt, ohne sich darüber bewusst zu werden: Er nahm Metaphern für den Bruchteil einer Sekunde wörtlich und transformierte sie in ein aufblitzendes Bild vor seinem geistigen Auge. Beschrieben die figurativen Ausdrücke dabei körperliche Schmerzen, so spürte Magnus kurz tatsächlich auch das Besagte: einen Stich im Herz, einen Schlag ins Gesicht, ein Brennen unter den Nägeln. Die Redewendungen hatten zusehends ihr Metaphorisches verloren, und der Schmerz in den Worten wurde aktuell. Illusionen sicherlich, halluzinatorische Momente, Unwahres — aber ist das Bewusstsein eines Schmerzes von diesem Schmerz selbst zu trennen? Ist nicht auch ein Phantomschmerz ein echter Schmerz? Magnus litt an den Metaphern, ohne es zu bemerken.

Er ging aufmerksam herum und soff, Bier vor allem, manchmal Wein. Er wusste, das macht Sinn, hier wird jetzt Sinn zutage gefördert. Er sah es in allen Gesichtern, an allen Obstständen, allen Plattenläden, in jedem Supermarkt. Die Döner-Messer wurden mit sonderlicher Hingabe und Härte gewetzt. Über Kreuzberg lag eine säuerliche Dunstglocke aus Menstruationsgeruch. Verschwenderisch flutete die alte Sonne die Oranienstraße und weichte hartnäckig und zäh, mit letzter Kraft, den schon brüchigen Teer auf, auf dem sie alle gingen. Und er ging mit, kaum noch festen Boden unter den Füßen.

Es war August, und Ameisen flogen durch die Luft. Was suchten die Ameisen in der Luft? Hektische Partikel am Rande seiner Wahrnehmung, geboren nur, um ihn zu verwirren? Welcher falsche Spin in welchem fernen Gen hatte ihnen ihre Flügel verliehen, zu Tausenden? Wenn die Ameisen keine feinen, kurzlebigen Linien durch die stehende Luft zogen, hastig ihre flüchtigen Spuren einkratzten (und wenn man diese Spuren fixieren würde, ergäben sie ein feinmaschiges chaotisches Netz, dessen versteckte Botschaft Magnus ängstigte), klebten sie halbtot an den Wänden oder krabbelten apathisch über das Parkett. Oder lösten verhaltene Panik aus, indem sie ihm todestrunken in den verschwitzten Kragen fielen und sich größer anfühlten, als sie waren, Panik, die nicht weiter auffiel, da die Gesten der gesamten Stadt fahrig wie im Schock waren.

Das bisherige Jahr war reich und leer gewesen. Magnus hatte gearbeitet wie nie; er hatte im letzten Herbst einen neuen Job angenommen, als Industriejournalist bei einem Mineralölkonzern; das bedeutete mehr Geld, also mehr Freiheit, aber auch weniger Zeit, also auch weniger Freiheit. Und es bedeutete eine noch größere Distanz zu seinen ursprünglichen Plänen. Zudem entsprach die Stelle nun gar nicht seinen Moralmaßstäben von sich selbst — nur, welcher Art waren diese noch einmal gewesen? Was nicht verschwamm, wurde verdrängt. Von irgendetwas musste schließlich jeder leben.