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Er war zuvor irgendwo aufgewacht, weil ein Rentner mit dem Spazierstock in seiner Seite gestochert hatte, um zu testen, ob das Dings da noch am Leben sei. Das hätte es unter Ulbricht oder dem anderen nicht gegeben, hatte der Rentner lauthals geschimpft und Magnus, dem die Hose noch in den Knien hing, aus seinem Versteck gescheucht. War dieser Rentner also Magnussens Lebensretter gewesen? Ach, vergiss es. Mit alten Zeitungen hatte Magnus sich notdürftig das Schlimmste von Haut und Kleidung gewischt, dann hatte er, jeder Schritt ein Schmerz irgendwo, den übelsten Heimweg seines Lebens angetreten. Endlich eine U-Bahn gefunden. Und darin dann wüste Paranoia geschoben, und Furcht davor gehabt, erneut einzuschlafen oder ohnmächtig zu werden. Ob es seine Zehen noch gab, war ungewiss gewesen.

«Hey, was ist denn los? Alles in Ordnung?», fragte Walter vor der Klotür, nach diskretem Klopfen.

«Jaja, alles in Ordnung, ich komme gleich», antwortete Magnus, wartete kurz, bis Walters Schritte wieder Richtung Küche verschwanden, und schlich den Flur hinab in sein Zimmer, um sich schnell ein paar andere Sachen anzuziehen.

Dann stolzierte er möglichst dynamisch-postheroisch in die Küche, ins Licht. Walter und Carmen lächelten ihn an, aber es kam Magnus vor wie das verzerrte Lächeln der Plastikmenschen im Soundgarden-Video «Black Hole Sun». Er lächelte dennoch zurück. Das Terrorlächeln hat mich wieder, dachte er. Und riss die Kühlschranktür auf.

«Na? Geht’s gut?»

«Fertig bin ich. Gut fertig.» Ein Terrorlächeln habe ich auf. Ein Terrorlächeln.

«Wo haben wir denn heute gefeiert?»

«Hier und da … so eine Party, dann so … so ein Geburtstag.» Walter und Carmen schauten ihn verständnisvoll bis neidisch an, nickten nett und lächelten. Magnus wurde es schwindelig, während er sich an der Kühlschranktür festhielt.

«Äh, wo ist denn die Milch?»

«Hier. Du kannst dich übrigens auch sonst bedienen.» Nein, nur Milch. Er wollte Milch.

Magnus ging so schwindelfrei wie möglich auf den Küchentisch zu. Schnappte sich ein Glas aus der Vitrine. Setzte sich hin an den Familientisch ohne Familie. Jetzt war ein Kommentar vonnöten, ganz klar. Jetzt musste er reden.

«Äh, und, ich meine, wie war denn die Vernissage?»

Walter und Carmen waren für Magnus die Erwachsenenversion von sich selbst. So würde er wohl auch mal sein, in zwei, drei Jahren, wenn er so alt wäre wie sie. Die Horrorvision lebte gleich im Nebenzimmer. Und jeden Tag lieferten sie ein neues Update, jeden Tag frisch unter die Nase gerieben. Beide machten in Kunst. Arbeiteten in einer der Kunstkunst-Galerien in der Auguststraße. Waren auf dem besten Weg, gemachte Kultur- und Lebensmanager zu werden, Lifestyle-Sophistizisten, die sich dabei aber dennoch einen abgefahrenen, alternativen Touch bewahrten, in geschäftstüchtiger Unbeschwertheit. Alles lief wie geschmiert. Man knüpfte Kontakte, plante die ersten eigenen Projekte, ließ sich Reisekosten erstatten, schloss nebenher das Studium ab, im Einklang mit dem Professor und allem. Briet Zucchini, häutete Tomaten, röstete Sonnenblumenkerne. Hielt sich auch beim gemeinschaftlichen Abendessen an die Seminarordnung.

Magnus kam sich daneben vor wie im falschen Film, oder, als ob zwei völlig unterschiedliche Filme nebeneinander abliefen. Etwa so: Er selbst war wohl Statist in einem frühen Richard-Linklater-Streifen, der mehr und mehr einen schrillen Larry-Clark-Stich bekam, während die beiden anscheinend als Headliner in einer schlechten Hal-Hartley-Parodie reüssierten, bei der aber noch jede Furzszene zwanghaft in eine falsch ausgeleuchtete Billy-Wilder-Ausgelassenheit umgebogen wurde. Manche mögen’s erwachsen. Walter lachte los.

«Ahu, ahu, also nein. Das ist grob.» Magnus hatte anscheinend etwas Sauwitziges gesagt, er konnte schon nicht mehr erinnern, was. Aber eigentlich hatte es sich ziemlich traurig angefühlt. Er goss sich noch ein Glas Milch ein. Niemals hatte Milch so gut geschmeckt.

«Hach, ich fühle mich richtig eklig erwachsen, wenn ich das höre», sagte Walter geziert. Das war so einer seiner Standardsprüche zu Magnussens nächtlichen Eskapaden. Offensichtlich hatte auch der Mitbewohner ein diffuses schlechtes Gewissen, wie Magnus. Offensichtlich starrte ein schlechtes Gewissen das andere an, und sie wussten nichts Rechtes miteinander anzufangen und wussten auch gar nicht genau, was eigentlich ihr Grund war.

Überhaupt, Walters fröhliche Verklemmung. Jedes Wort, das er sprach, kam Magnus vor wie eine Münze, die Walter im Mund erst zehnmal hin- und herwendete, bevor er sie, dann aber ganz lockertuerisch, ausspuckte. Jeder Satz aus Walters Mund kam ihm entgegengestelzt wie ein Therapierest, ein Diskurskrüppel, ein psychoanalytisch zusammengeschultes, zusammengeschissenes Etwas. Jede Silbe war eine Vorsichtsmaßnahme.

Leute, die zu große Skrupel hatten, sich auszusprechen oder frei zu bewegen, weckten in Magnus immer genau dieselben Skrupel, nur noch viel stärker, verquerer, behinderter. Dann fühlte sich Magnus immer wie ein Zerrspiegel aller Menschenschwächen.

Das Indianeramulett in Walters Hemdausschnitt wippte hin und her. «Grenzgradig. Von der Konzeption her interessant, aber von der Hängung eher teilgeil.» Walter und Carmen diskutierten die gestrige Ausstellung. Aber sie hatten das wohl schon einmal besprochen und käuten das Ganze nur noch einmal für Magnus wieder hoch und durch. Er nickte und lächelte und nahm einen großen Schluck Milch. Seine Hand zitterte. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen.

«Ja, etwas mehr Platz zwischen den Bildern wäre gut gewesen. Und die Plastiken asymmetrischer, chaotischer verteilt», sagte Carmen. Magnus schreckte auf. Er musste für mindestens zehn Minuten weg gewesen sein. Hatte er auch geschlafen? Aber keine/r hatte etwas gemerkt. Walter löffelte sein Müsli, seine Apfelstücke in Biomilch und ließ sich derweil über die Unerträglichkeit der FAZ aus. Carmen lutschte an einer Lachsschnitte und pflichtete ihm bei. Ein Leben wie im Ambient Sound, ein zäher, hauchheller Loop, immer derselbe, ein abgemischtes Frauenlachen darin. Und ich werde bald auch so sein, ein Filofaxkurator, ein linker Spießer, ein gemachter Kulturfreund, dachte Magnus. Und sagte:

«Nun, ihr scheint ja glücklich zu sein. Hier mit dem Frühstück und der Kunst, und so.»

Etwas überrascht und irritiert sagte Walter, lächelnd: «Ja … man tut, was man kann …», und lächelte weiter.

Magnus sah die Wassertropfen auf den Tomaten, die Riffelungen im Lachs und den Meerrettich, das zehnschrötige Elfkornbrot und den feuchten Tofu daneben.

Ich würde jetzt gerne einen McRib vor euren Augen essen, dachte er. Saftig, vor geiler Sauce triefend, innen das ungesunde, schlimme Gummifleisch. Und mir dann mit dem parfümierten McFrisch-und-Sauber-Tüchlein die braunen Tropfen langsam und genüsslich vom Kinn wischen und, während mir hundert gelbe Eiterpickel aus der Stirn sprießen, mit vollem, zuckendem BSE-Mund verkünden: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Euch selbst womöglich. Denn das knallt noch immer am besten. Und dann aufstehen, rülpsen und sterben.

Anstatt dies wirklich zu sagen oder zu tun, wurde ihm wieder nur schwarz vor Augen, und sein Magen morste ein paar kurze Krampfsignale ins Nervensystem. Und er setzte dieses Lächeln auf, die Währung, mit der allein man sich hier freikaufen konnte. Carmen und Walter hatten es bereits auf dem Gesicht, und Magnus wunderte sich abermals, dass ihre Gesichtsmuskulatur nicht längst versteinert war. Dieses Terrorlächeln. Dieses Lächeln wie eine Maske, unabsichtlich, ohne Hintergedanken, freiwillig verinnerlicht vor Jahren schon, aus Unsicherheit und Vorsicht, aus vorauseilendem Gehorsam, das Lächeln zum Erfolg.