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Denn Thorsten war im Laufe seines nun schon siebenunddreißigjährigen Lebens zu einer Art Sexmaniac geworden — manisch in der Tat und noch mehr im Geiste. Gemeinhin wird unserer Medienwelt nachgesagt, einer allumfassenden und tiefgehenden Sexualisierung anheimgefallen zu sein und diese zu progagieren: kein Werbebild, das nicht den perfekten Körper und seine allgegenwärtige Verfügbarkeit feierte; kein Slogan, der sich nicht einer obszönen Zweideutigkeit verdankte; keine Show, die nicht irgendwelche Geilheiten bediente, um die omnipotente Quote zu befriedigen. Entfesselter Sexus auf allen Kanälen, vielfach kodiert, aber immer offensichtlich. Ähnliches war Thorstens Bewusstsein passiert: Es war durchsexualisiert worden, und zwar komplett.

Mit der wachsenden Erfahrung korrespondierte eine verkümmernde Phantasie. Früher war ihm «das Reich der Sinne» ein barockes, grelles Märchenreich gewesen, bewohnt von Engeln, Pfauen und ein paar blendend weißen Dämonen, ein Vielstromland voller Geheimnisse und sinnlicher Utopien. Inzwischen war jedes Geheimnis mit dem Schweiße der zig Geschlechtsakte verdunstet und abgewaschen. Alles lag offen und banal vor ihm, Fleisch auf Fleisch, Biologie, Trieb, Reiz und Reaktion. Das Rätsel Weib war ihm zum Porno-Filmstill verkommen. Ob er von der gescholtenen Medienwelt derart versaut worden war oder ob er die Konditionierung selbst verschuldet hatte, blieb gleichgültig. Er wusste nicht, wie normal oder gut oder schlecht es war, es war einfach. Er sah eine Frau, sie wurde zum mentalen Pin-up, und weiter ging das Leben.

Diese Frau aber sprang auf sein Gehabe an. Das merkte er. Ungeduldig rieb sie ihren Schoß am Sitzpolster. Aber ein Meeting ist ein Meeting, und auf Meetings sind Interessen durchzusetzen. Über die französische Nonchalance, in deren Namen den Geschäftspartnerinnen süßliche Komplimente gemacht werden können (er hatte während des Studiums als Praktikant bei einem großen Kosmetikunternehmen in Paris gearbeitet und dort die kunstvolle Leichtigkeit des geschäftlichen Umgangs erlernt), durfte dieser Flirt nicht hinausgehen. Er zerdrückte die Red-Bull-Dose, pfiff durch die Zähne, setzte ein unbedarftes Gesicht auf und sagte zu dem Mann:

«Das sind tatsächlich interessante Perspektiven. Ich werde das mit meiner Abteilung besprechen und Ihnen innerhalb der nächsten Woche Nachricht zukommen lassen.»

Alles entspannte sich. Eine Einigung zeichnete sich ab. Eine Einigung ist immer ein Genuss. Er begleitete die beiden zum Aufzug, verabschiedete den Mann mit einem kräftigen Händedruck, die Frau überdies mit der Bemerkung, dass ihre Brosche hervorragend zu ihrem Rock passe. Das war gegen die Norm. Mit solcherart Komplimenten konnten Kontakte wünschenswerterweise eröffnet, aber keinesfalls verabschiedet werden. Sie dankte es ihm mit einem besonders festen Händedruck und hob kokett eine Augenbraue. Dann schloss sich die Fahrstuhltür, und er sah die beiden durch das Glas hinabfahren. Er zündete sich eine Zigarette an.

Und ob, du Schlampe. Und ob.

Nach dem Mittagessen war ein Briefing für die neue «Welcome»-Ausgabe angesetzt. «Welcome», so hieß das unternehmensinterne Partnermagazin. Es erschien alle zwei Monate und wurde an die Tankstellenpächter zu Instruktionszwecken und wegen der Trendberichte, an die Industriekooperatoren aus Gründen der Imagepflege versandt. Ein neuer journalistischer Mitarbeiter war angekündigt. Der bisherige Redaktionsstab von «Welcome» bestand aus drei desillusionierten Schreibern um die vierzig, die irgendwann ihr Stadtmagazin- oder Filmkritikerdasein an den Nagel gehängt hatten und sich nun wegen des doppelt so hohen Zeilengeldes als Industriejournalisten verdingten. Der Neue sei anders, jünger, unverbrauchter, hatte die Chefredakteurin auf dem Flur gesagt. Ein Artikel über die neuen Space-Management-Konzepte war vorzubereiten.

«Space Management», dozierte Thorsten eine halbe Stunde später, «ist die umsatzsteigernde Neustrukturierung und Optimierung von Shopbereichen.» Er blickte in ein seltsam verwaschenes Gesicht. Der neue Journalist, Magnus Taue beim Namen, saß ihm ausdruckslos, womöglich feindselig gegenüber und hielt sich an seiner abgenutzten Plattentasche fest. Er war tatsächlich jünger als die anderen, hatte aber einen altklugen Zug um die verkniffenen Lippen, war leicht aufgedunsen und sehr bleich. Seine Augen blickten stechend, bohrten sich in Thorstens Gesicht fest, schienen jedoch leicht zu tränen. Die Gesichtszüge, eigentlich die eines Charakterkopfes, wirkten verschwommen, teigig.

«Wollen Sie nicht mitschreiben?», fragte Françoise Starck, die Chefredakteurin von «Welcome».

«Doch, natürlich», antwortete Taue, kramte in seiner Plattentasche und lächelte still in sich hinein. Er war Thorsten unsympathisch.

Auf die Wand war das Spaceman-Planogramm projiziert. Ein idealtypisches Kühlregal, in das alle relevanten Warengruppen in Form von feinen, übersichtlichen Blöcken einsortiert waren: Energy Drinks, Sportgetränke, Säfte regional, Säfte national, Wasser, Premixe, Softdrinks, Sekt. Thorsten liebte diese effiziente, saubere Ästhetik des Kapitalismus. Alles lag offen, die Fehler konnten begriffen, die Schönheit gesteigert werden. Nichts war ihm angenehmer als eine Reihe Logos oder eine Serie gleichförmiger, werkfrischer Kühlprodukte. Diese hier waren von der Agentur digital gezeichnet und per Copy & Paste einheitlich und makellos nebeneinander gestellt worden. Das verstärkte den Effekt der Gleichförmigkeit, der perfekt polierten, umsatzsteigernden Oberfläche. Multifacing sorgt für Warendruck, Masse verkauft Masse.

Thorsten dozierte weiter. «Welche Daten fließen also ein bei der Erstellung eines Planogramms? Zunächst werden die Warengruppen analysiert und strukturiert. Eine Warengruppenstruktur wird definiert und nach den Umsätzen bewertet. Wie groß ist beispielsweise der Umsatzanteil von Wasser ohne Kohlenstoffdioxid am gesamten Wassersegment? Wie groß an dem der alkoholfreien Getränke? Danach werden Warengruppen-Taktiken festgelegt. Trends, Regionalitätsfaktoren und netzinterne Besonderheiten der jeweiligen Gruppen werden im sogenannten Warengruppenbarometer zusammengefasst.

Nehmen wir die Warengruppe Wein als Beispieclass="underline" Wie Sie sehen, wächst hier der Trend, wir haben eine große Sortimentsbreite und — tiefe, Regionalität spielt eine Rolle, der Flächenanteil ist mittelwertig, und der Schwerpunkt liegt nicht beim Impuls-, sondern beim Zielkauf. Das ergibt spezifische Platzierungs- und Optimierungsalternativen. Nach Eruierung dieser Faktoren werden die Maße der Shopmöbel und der Produkte bei den Herstellern eingeholt oder, wenn nötig, eigenhändig ausgemessen, um die Regalierungstypen zu definieren und die sinnvollsten unter ihnen zu bestimmen. Die Artikel werden vor Ort an der Station genau vermessen und dann gemäß ihrer Umsätze ausgewählt, um schließlich im Planogramm platziert zu werden. Es fließen also Regaldaten, Artikelmaße, markt- und netzinterne Daten in ein Planogramm ein, um die optimale Gestaltung des Shops zu gewährleisten.»