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Magnus stand auf und stieß dabei mit dem Knie an die Tischkante, der Tisch wackelte, und aus Walters Müslischüssel schwappte etwas Milch auf seine Hose. Carmen warf Magnus einen besorgten Blick zu.

Er fühlte seine Leber, rechts, oben. Stiche darin. Nein, dachte er, so werde ich nicht erwachsen. So nicht. Lieber mache ich so weiter wie bisher und scheitere. Lieber fucke ich mich ab, bis ich ganz am Boden liege und kein Terrorlächeln mehr mein Denken lähmt. Lieber fetzt alles richtig auseinander, als dass die Lüge mich falsch zusammenhält.

Das Bett mit den Flecken und der zerknautschten, schweren Bettdecke wartete schon. Ohne sich auszuziehen, warf er sich in die Federn und schloss die Augen. Ende, endlich Ende des Tages, Ende der Nacht. Ende.

Autos fuhren unten auf der Straße vorbei, eines davon hupte. Magnus hörte noch, wie Walter und Carmen an seiner Tür vorbeischlichen. Es mag durchaus sein, dass der Fehler bei mir liegt, dachte er. Aber es ist mir egal. Fehler sind wunderschön. Und schlief ein. Die Sonne heizte seinem fettigen Gesicht ein und trübte die Farbe der Multivitaminbrause neben seinem Bett. Seine Hand hing über die Bettkante. Sie zitterte nicht.

Liebe Villa! Geht es dir gut heute Morgen? Ich hoffe doch. Mir auch. Nur der Welt draußen — ach, Villa, ich weiß nicht. Die Hysterie scheint wieder da zu sein. Wenn die Leute nichts zu tun haben, werden sie hysterisch. Nichts passiert im Sommerloch, und plötzlich ist ein Virus der Star, oder das Genom und paar belgische Blagen. Aus Solidarität mit den Pferdegrippeninfizierten habe ich seit ein paar Tagen Nasenbluten. Echt wahr. Aber so richtiges. Plötzlich, scheinbar ohne Anlass, schießt mir Blut aus dem linken Nasenloch. Blut schmeckt komisch, metallen. Sind wir schon erkaltet? Unsere Bewegungen vorgestanzt? Die Gelenke verknorpelt? Oh, die Körper imitieren die alten Figuren, unter denen sie leiden. Das, was sie formte und unterdrückte, bricht aus ihnen raus. Damit lässt sich einiges erklären. Liebe Villa, meine letzte Hysterikerin traf ich vor zwei Wochen, frühmorgens vor dem Maria auf der Straße. Der Himmel schien schon hell und böse, der Asphalt war mir feindlich gesonnen. Die Hysterikerin flitzte auf einer wüsten Kreuzung hin und her. Ich ging vorbei, sie schaute mich an, ich sagte: Alles klar? und erkannte sie wieder, die war auch im Maria gewesen, eine Animateuse, hatte ich gedacht, weil die so housekatzig getanzt hatte, wo doch alle schon hinüber waren. Sie folgte mir ein paar Meter, ich drehte mich um. Was ist los? Da brach aus ihr ein Schwall kauderwelschiges Spanisch heraus, sie verdrehte die Augen, verkrampfte die Hände nach außen, zeigte auf mich, plapperte manisch, schien mir eine hochbedeutsame Botschaft übermitteln zu wollen. Sie war Spanierin. Sie war hübsch. Scheiße, dachte ich, die Druggies wollen mich wiederhaben. Die haben die Hysterikerin da mit Speed vollgestopft und ihr eingetrichtert: Du den fangen. Du den zurückholen. Der Chor der Druggies schien hinter der S-Bahn zu stehen und zu flüstern: Komm, Magnus. Komm zurück. Du kannst dich nicht verleugnen. Ich fragte: Kann ich dir helfen? Sie schlängelte sich um ein Baugerüst und machte diese unsäglichen Gesten, in einem Tempo, zu schnell für meine breiten Augen. Dazu ihre panische Mimik, die großen, leeren Augen, und diese Sprache, in einem irren, unverständlichen Tempo. Ein Mann lümmelte sich auf einer Bank auf der anderen Straßenseite und glotzte rüber. Wenn ich nicht aufpasse, wird die gleich vergewaltigt, dachte ich. Dann habe ich sie nach Hause gebracht und selbst gefickt. Die ging ab! Hahaha! Quatsch. Habe sie nach Hause gebracht, was nicht schwer war, da sie ungefähr zwei Häuser weiter wohnte. Schier unbegreifliches Chaos in ihrer Wohnung. Aus den versifften Ikearegalen quollen Pullover, Nutellagläser, wirre Manuskripte. Das Schlimmste war, wie sie vor dem Spiegel loslegte. Da konnte ich kaum hinschauen, obwohl ich fasziniert war. Sie schnitt Grimassen, schimpfte sich an, griente und schleuderte dreckige Gesten in die Luft. Ihre zwei Katzen fauchten mich an. Auf dem Heimweg in der S-Bahn, mein Fahrrad lag im Busch, im Tiergarten, wo wir diesen Sänger getroffen hatten, der auf seine Plattenfirma schimpfte, Scheiß-VIVA-Rotation, undsoweiter, hatte ich einen Schweißfilm auf der Haut, und der Hemdkragen klebte mir im Nacken. Die Sonne stach. Zu Hause warf ich mich aufs Bett und wichste und schrie: Villa, dein Name ist ein Haus! Dann schlief ich traumlos ein. Jetzt sieh, was Du angestellt hast! Ein Gruß nach Tübingen — Dein Magnus

Lieber Magnus! Ob das was zu bedeuten hat, weiß ich nicht, aber ich spüre es auch, dieses Kribbeln, unter der Haut, und ich will tanzen und tanzen, um dieses Kribbeln zu betäuben, das Nervenfieber zu löschen, und vielleicht will ich auch meinen Geist ölen, der als Geist in der Maschine steckenzubleiben scheint. Nur worin, ist die Frage. Woher kommt denn der Gruß? Doch wohl nicht aus Berlin? Villa

Villa, Dein Name ist ein Haus, und meine Stadt ist tatsächlich Berlin, aber glaube nicht, dass ich die Stadt liebe. Im Gegenteil, Berlin verursacht Übelkeit, Hysterie, BZ-Flimmern. Aber zeig nur einen Nippel, und mein Schwanz wird sehr hart. Kannst du dich mal ausziehen für mich? — Magnus Das werde ich gerne tun. — Villa Das machst du gut, sehr gut. — Magnus So? — Villa Etwas schneller, und fester. — Magnus Spürst du es auch? — Villa Oh ja. Jetzt halt sie mir hin. So ist gut. — Magnus Was habe ich denn hier verpasst? Wer ist denn dieser Magnus? Wird Villa jetzt zur Cyberschlampe? — Major Tomsky24

Der Spaß schien lau, die Wirkung aber war beachtlich. Magnus und Raoul hatten Villas Tagebuch geentert und einen zweitägigen Dialog zwischen Magnus und Villa fingiert, der ein sachtes, schräges Näherkommen in der Virtualität suggerierte. Das Bier hatte ihnen noch die eine oder andere Zweideutigkeit eingeflüstert; insgesamt nichts Schlimmes. Als Magnus am nächsten Tag dann die Seite wieder aufrief, herrschte dort helle Aufregung. Die deutschlandweit verstreuten Villa-Fans hatten sich über Villas Billigkeit empört und Magnus als «Penner» und «Möchtegern» gedisst. Dann hatte Villa sich eingeschaltet und überdreht (in durchgehend großen Buchstaben und mit aufdringlichen Ausrufezeichen-Trios hinter jedem Satz) beschworen, dass jemand sich in ihr Tagebuch eingehackt habe, dass sie nicht Urheber dieser fiesen Geschichten sei und ihr Tagebuch nun für ein paar Tage schließen müsse, bis ein einbruchssicherer Zugang programmiert sei.

Magnus musste lachen und trank ein Bier. Dann ging er zurück ins Tagebuch, löschte Villas Einträge und textete weiter.

Es war Anfang September. Ein neuer Morgen dimmte heran. Zeitschalte. Die große Maschine stampfte wieder los. Alle liefen zielgerichtet durcheinander, in U-Bahnen, auf Gehwegen, in Autos, durch Zentralen. Der Herbst matschte auf den Straßen, und Magnus Taue blätterte frischgeduscht in der Hochglanzbroschüre zur Sicherheitsoffensive. Die S-Bahn stand still und stieß alle fünf Minuten ihr dummes Großstadtkeuchen aus. Die Leute saßen, stierten und lasen. Verantwortung ist ein Imagewert, man kann mit ihr punkten, so stand da, in der Broschüre. Magnus verstand nicht, wie man solche Sätze schreiben konnte. Dabei stammte der Satz von ihm. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Die S-Bahn fuhr los.

Von der RADIKAL-Glaskuppel strahlten Lichtstalaktiten herunter; dickere, gewaltigere als der einzige Strahl, unter den «diese Karikatur von Kühnemund» (so er in seinen Gedanken) sich kürzlich im Club so angeberisch gestellt hatte. Magnus hatte Thorsten heimlich beobachtet und genau den Augenblick abgepasst, wann er seinen «Arbeitskollegen» — ein Attribut, nein, eher schon ein Prädikat, mit dem Magnus den vierschrötigen Brad-Pitt-Verschnitt nur ironisch bedachte — wann er ihn also ansprechen würde, wenn er ihn denn überhaupt ansprechen würde. Eigentlich hatte er das nämlich nicht vorgehabt. Eigentlich wollte er den Job so weit wie möglich von seinem Leben fernhalten, zumal von seinem Nachtleben. Es erfüllte Magnus insgeheim mit Scham, für den europaweit führenden Mineralölkonzern und also für das Kapital an sich zu arbeiten.