Er betrat das Atrium. Seine Kunststoffsohlen quietschten auf dem gebohnerten Marmorboden. Anzüge schwebten vorbei, gescheitelte Männer, die ihn feindselig ansahen, Frauen in Kostümen, die ihn ignorierten. Die Empfangsdamen blickten erst auf, als er vor ihnen stand.
«Guten Tag.»
«Guten Tag, Herr Taue.»
«Ich habe einen Termin bei Frau Starck.»
«Ja, ich rufe eben an.»
Seit dem elften September mussten Gäste, Partner und sonstige Kollaborateure persönlich im Atrium abgeholt werden. Drehkreuze, von Chipkarten zu öffnen, waren aufgestellt worden. Magnus setzte sich zum Warten in die schwarzlederne Sitzgruppe und starrte den gewaltigen Flachbildfernseher an, auf dem die neuesten Triumphe von RADIKAL im Loop gesendet wurden: hier ein Weltmeister in der Formel 1, dort eine neue Errungenschaft in Sachen Naturschutz, dazu Auszeichnungen für die innovative Shoparchitektur, Kursverläufe an der Börse, Interviews mit der Geschäftsführung in London und Berlin. Magnus war nervös. Immer wurde er nervös in dieser Sitzgruppe, vor dem nächsten Termin, der immer auch ein Stück Niederlage, ein Stück Selbstverlust und eben einen weiteren kleinen, räudigen Seelenverkauf bedeutete.
Der Aufzug sank herab; Magnus sah den Flaschenzug und die schwerelose Bewegung; er sah Thorsten und Françoise herunterschweben, der Fahrstuhl war aus Plexiglas und transparent; sein Tinnitus meldete sich. Immer meldete sich in Stresssituationen, die weder mit Musik noch mit Alkohol gedämpft werden konnten, sein Tinnitus und erinnerte ihn an den Makel, der ihn mehr und mehr von der restlichen Welt trennte. Der Tinnitus war dabei nur ein Zeichen. Der Makel bestand in etwas Größerem und Wesentlicherem als einem bloßen Hörschaden.
«Nun, Herr Taue, sind Sie bereit? Schön, Sie zu sehen!»
Françoise war wieder äußerst französisch, um Kollegialität und trikolorische Gastfreundschaft bemüht; sie trug bordeauxrote Schuhe, einen ebenso gefärbten Schal, ein dunkelblaues Kleid und — als Signalaccessoire — einen knallgelben Gürtel.
«Guten Tag.» Magnus sah schon nichts mehr vor lauter Farben. Er sagte «ja» und drückte beiden die Hände. Dann wurde ihm kurz schwarz vor den Augen. Dann fing er sich wieder.
Sie fuhren nach oben. Keiner sagte etwas.
Magnus bekam den Termin schließlich hin.
Aber fünf Minuten nach dem Briefing musste er sich an einem Bauzaun übergeben.
Zu Hause sah er nach, was bei Villa los war. Viel, wieder. Er kam nicht mehr von ihr los. Irgendwann schlief er ein und hatte zerrüttete, dünne Träume. Dann wachte er auf.
Dann war Donnerstag.
Zunächst war da ein Umstülpen. An jenem Donnerstag. An jenem, jenem Donnerstag. Die ganze Welt ging fort. Ging fort, oder zeigte sich erstmals, die Welt in ihrer Ganzheit — wie man es nimmt, oder gibt, oder lässt. Ein Aufwölben, ein Umstülpen, und dann das Nachrücken, die nachträgliche Erleuchtung, das verspätete Einklinken in den Gesamtzusammenhang.
Magnus verstand plötzlich, verstand den Krebs der Wahrheit, der von einer winzigen Parzelle des Internets namens Villacam ausgegangen war. Er begann, nachdem sein Identitätskarneval erste Denkwucherungen, auch auf Feindesseite, nach sich gezogen hatte, bei der Lektüre der zahlreichen Repliken immer genauer zwischen den Zeilen zu lesen, aber auf eine Art und Weise, die selbst Bibelexegeten verängstigt hätte.
Das Gelesene, in diesem Fall die Hasstiraden in Villas Gästebuch, kehrte nämlich die Richtung um und begann, ihn zu lesen. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen wurde unendlich umkehrbar. Jedes Wort begann, mehrdimensional zu schillern, und alles war auf alles beziehbar. Erstaunlicherweise geschahen Codierungen nicht immer in Form von einfachen, rückübersetzbaren Metaphern, sondern oft innerhalb der Gesamtheit eines Stimmungsbildes, in dem die Reibewirkung aneinander schabender Wortfelder und sich streifender Bedeutungspartikel eine Spannung erzeugte, aus deren Mitte kleine Botschaften an Magnus höchstpersönlich entsprangen. Andererseits wurden die Bilder an anderen Stellen unschärfer, fast labbrig, und die Verweise schossen, nicht zu halten, nicht zu fassen, in zu viele Richtungen davon. Magnus blieb an schludrigen Nebensätzen hängen und fragte sich, ob die zahlreichen Rechtschreibfehler darin ebenfalls gewollt waren. Ein Sehsack? Er lachte schrill auf. Was für eine Unverschämtheit! Er klopfte sich auf die Schenkel und lachte noch spitzer; lachte über den Sehsack, über die Unverschämtheit, über seine Schenkel und über sein Lachen.
Im Impuls sprang er auf und lief in eine Zimmerecke, um nachzudenken. Er starrte die Wand an, strich mit den Fingerkuppen über die Luftbläschen in der weißen Farbe. Die Gedanken jagten einander. Seit wann hatten sich diese Leute, die er nicht kannte und die ihn nicht kannten, darauf verständigt, in dieser doppelt gezinkten Sprache zu schreiben? Was war das für ein Code? Was bezweckten sie damit? Er eilte zurück zum Computer und lud alle Seiten der letzten beiden Wochen herunter, um sie nach Hinweisen zu durchkämmen, nach versteckten Absprachen, nach dem Zeitpunkt, wo sich diese Freaks da draußen auf ihren vertrackten Code geeinigt hatten. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Während die alten Seiten sich störrisch langsam aufbauten, aktualisierte er nochmals die neueste Seite und tatsächlich: schon wieder sieben neue Einträge. Die neuen Sätze waren in sämtliche Richtungen wendbar. Übereinandergelegt und zusammengelesen aber ergaben sie ein eindeutiges Bild. Magnus ging hin und her in seinem Zimmer und wurde immer wirrer und doch irgendwie klarer. Und je länger er überlegte (und er durfte nicht sehr viel länger überlegen, denn jetzt war Zeit zu handeln!), desto mehr wurde die Vermutung zur Gewissheit.
Von der einen Internetzelle ausgehend, hatte der Krebs des Verstehens also benachbartes Gewebe infiltriert, um es zu destruieren, von dort in andere Organe hineinzuwuchern und schließlich sämtliche Textkörper zu erfassen. Die Transformation einer einzigen Zelle betraf die ganze Vernetzung. Als Magnus wieder aus dem Fenster blickte, waren die Lichter im gegenüberliegenden Haus wie auf Kommando erloschen. Er winkte und lachte. Vom Balkon ging eine Sogwirkung aus. Aus seiner Anlage splitterte die Musik leise durchs Zimmer. War denn nun eine Party oder doch schon ein Mord geplant?
Es war schwierig, die richtigen von den falschen Hinweisen zu trennen. Die Differenzierung war immens. Hatte Walter (die beiden wollten umziehen!) mittags noch schwul-hektisch mit dem Stadtplan vor seiner Nase herumgefuchtelt und Straßennamen aufgezählt (die Magnus nun wie Hohn vorkamen, spöttische Winke der Städteplaner in seine Richtung), so hatten die Hinweise jetzt auch das Stadtmagazin metastasiert. Magnus erschrak, denn es war unleugbar schon vor einer Woche gedruckt worden. Oder? Hey! Oder hatten sie es nachgedruckt und ausgewechselt? Sie? Das Telefon schrillte. Er stöberte im Bücherregal.
Straßenschilder staken aus dem Boden wie Zahnstocher aus Käsehäppchen, bewipfelt mit kleinen Rechtecken, auf denen große Namen zitterten. Es war nicht mehr gleichgültig, wo welche Worte hinzeigten, welche Straßen einander kreuzten und welche parallel verliefen. Ihre Benennung war nie willkürlich gewesen, nie. Ihre Ordnung ging weit über die offensichtliche Benennung nach Schriftstellern oder skandinavischen Städten hinaus, und ein genau bestimmbares Gefälle der Namen innerhalb dieses Netzes ließ Magnus schwindeln. Für den Moment aber konnte all dies außer Acht gelassen werden. Wichtig war, aus dem wuchernden Bedeutungsnetz die richtigen Zeichen zusammenzulesen und seinen derzeitigen Ort zu bestimmen.
Die Suche begann. Eine Schnipseljagd? Schon im verwucherten Hinterhof fand Magnus den ersten Hinweis, einen Zettel mit verschwommenen, kugelschreiberblauen Waschanleitungen. Und die Tür zum Keller stand offen. Es brannte Licht. Hinuntergehen? Nach den ersten Schritten auf den schmierigen Stufen der Treppe blieb er stehen, fühlte sich unsicher. War dies eine Falle? Dort unten wartete etwas auf ihn, das war sicher und doch nur eine Finte. Ein stärkerer Sog, ein mehrstimmiges Rufen kam woanders her. Magnus ließ den Zettel fallen und schritt wieder hinauf, dann besann er sich, ging nochmal hinunter, holte den Zettel und legte ihn draußen genau an die Stelle zurück, wo er ihn gefunden hatte.