Er lief, hey ho! die Köpenicker Straße entlang. Die Autos rauschten vorbei wie im Comic, viele Laster darunter, ungebührlich viele Laster, Mammutautos, die in Richtung Alexanderplatz donnerten. «Laster fahren an dir vorbei!», rief er und lachte, indem er gegen einen Zaun trat. Er erinnerte sich: Bei einer bestimmten Adresse hatte der Blick seines Mitbewohners besonders intensiv geflackert, und sein Finger hatte sich, träge vor Bedeutungsschwere, sehr langsam über den zerknitterten Falk-Stadtplan geschleppt. Brunnenstraße? Torstraße? Magnus lief immer schneller. An der Ecke erstand er zwei Bierdosen, um Energie und Kühle zu tanken. Der Vietnamese wagte nicht, ihm in die Augen zu blicken. Magnus hielt die Bierdose kühlend an die Stirn, fragte den Vietnamesen nach der Richtung. Er würde ihm doch ein Zeichen geben, wenn er —? Er gab ihm kein Zeichen, nein, sondern senkte erneut den Blick zu Boden.
Auf einer Baustelle war das rot-weiß gestreifte Absperrungsband dramatisch zerrissen und tänzelte in der vom Verkehr aufgewühlten Luft. Der Bürgersteig war von kleinen Zetteln, Fäden, Scherben übersät. Auf einem Werbeplakat grinsten zwei Frauen und leckten etwas Saures dabei. Die Sonne glühte wie eine frisch umgeschmolzene Münze. Magnus dachte: So sieht die Welt also aus! Ha!
Die Stimmung war umgeschlagen, es hatte einen Sprung gegeben, in der Atmosphäre, der Luft, dem Licht. In der U-Bahn hielt er es nur eine Station aus: von der Jannowitzbrücke zum Alexanderplatz. Er glühte vor, in der Mitte des Ganges stehend ohne Halt, die ruckelnden Erschütterungen mit dem Körper auffangend. Die U-Bahn ist mein Skateboard, sagte er zu einer hübschen Studentin, die laut lachte, aber wie gekitzelt. Am Alex überfiel ihn leichte Panik. Es war schon vier! Die Uhren nickten im Wind. Wohin? Magnus rannte die Torstraße hinunter, die Brunnenstraße hinauf. Die Leute sahen ihn entgeistert an. Manchen stand ein aufatmendes «Endlich» ins Gesicht geschrieben, manchen purer Hass. Nummer fünfundvierzig, hatte sein Mitbewohner gesagt. Oder vierundfünfzig? Mit Überwachungsanlage, hatte er gesagt! Es musste demnach ein komplett saniertes Haus sein. Er bog in eine Nebenstraße ein, fand ein verdächtiges Haus mit Video-Bullauge über den Klingelschildern und studierte die Namen. Sie gaben keinen Aufschluss. Er musste etwas Grundlegendes übersehen haben. Er klingelte, redete mit den knisternden Stimmen aus der Gegensprechanlage, lief kichernd zurück zur Brunnenstraße und hielt ein Taxi an, das just in diesem Moment aufgetaucht war, wie bestellt. Zu Hause angekommen, fiel Magnus über die Radtaschen seines Mitbewohners her, die plötzlich nicht mehr in dessen Zimmer, sondern im Flur aufgestapelt herumstanden. Der Anrufbeantworter blinkte: eine Botschaft von einer seit Monaten brachliegenden Bekanntschaft, die mit ihm wegen eines «Kriegsprojekts» über Geschosse reden wollte. Du kennst dich doch aus mit Geschossen? Magnus fasste sich an den Kopf. Ging es etwa um Architektur? Danach die fremde Stimme einer alten Frau: Hast du meinen Brief bekommen? Er stürmte in die Küche und durchwühlte alte Post, aber kein Brief fand sich zwischen den Rechnungen. Ein Lachanfall besprang ihn. Im Netz gab es keine neuen Einträge. Er scrollte hinab zu alten Texten. Die ineinander verhakten Sätze waren die bekannten, aber neu lesbar, wie tote Runen, die kleine Flauschbälle laichten, welche in seinen Kopf eindrangen und dort sofort zu schleimigen Gremlins aufpoppten. («Was ein gemeiner Film!», rief er aus.) Es war offensichtlich: Diese Leute hatten sich nicht nur miteinander abgesprochen, seit Tagen, vielleicht Wochen — sie hatten ihn auch beobachtet. Sie wussten so viel über ihn, seine täglichen Verrichtungen, seine Abneigungen, seine Vorlieben, dass keine andere Erklärung möglich war. Wie aber hatten sie dieses Kunststück angestellt? Stand Walter mit ihnen in Kontakt? Sein Mitbewohner, dem Magnus eh nicht mehr über den Weg traute, der immer mit gespaltener Zunge und Wattebäuschen in den Backen redete — ihr Informant? War er überhaupt im Urlaub gewesen? Solariumsbräune hatte in seiner Haut geglänzt.
Und überhaupt — wessen Informant? Langsam und sekundenschnell dämmerte Magnus ein viel größerer, viel epochalerer Zusammenhang. Dies (aber was war: dies?) war schon lange unterwegs gewesen. Dies waren nicht nur die Freaks auf Villacam, nein. Dies waren nicht nur Freaks aus dem Netz. Dies waren — mehr. Viel mehr. Dies waren vielleicht sie.
Nicht mehr lachend, nur noch schwitzend klopfte Magnus die Wände ab. Er beobachtete eine dunkle Stelle an der Zimmerdecke. Dort könnte unter Umständen eine Kamera versteckt sein. Er sprang hoch, warf Socken nach dem Loch, zeigte den Mittelfinger. Dann wurde er sich der Lächerlichkeit solchen Tuns bewusst und lief zum Fenster. Drüben hockten die Tauben in der Wand wie immer. Er wusste nicht mehr, was zu tun war. Sein Blick torkelte umher, stolperte über die Straße, die dalag wie ausgestorben. Wo eben noch eine Wahnsinnskarawane vorbeigedröhnt war, schlich nun eine Katze herum, setzte sich nieder und leckte sorglos ihre Tatzen.
Drüben, auf der anderen Straßenseite, leuchtete das besetzte Haus in der Abendsonne. Die Fenster waren zerschlagen, mit Laken verhangen, standen leer, gähnten. Er sah niemanden, und doch hatte Magnus das Gefühl, dass sein Blick erwidert wurde. Vielleicht starrte das Haus als ganzes zurück? Er winkte hinüber, ruderte bizarr mit den Armen. Sofort erschrak er, voller Scham. Das Haus ist ein Haus, versuchte er sich zur Vernunft zu rufen, ein altes, zerfallenes, besetztes Haus, das ebenso wenig zurückstarrt wie irgendein anderes unbelebtes Ding. Dennoch konnte er den Blick nicht davon lösen. Lag es nicht auf der Hand? In einem der nackten Fenster schien ein Gesicht auf, und in dem Gesicht blitzte es. Dann war das Gesicht verschwunden. Magnus beugte sich vor und begann wieder zu winken, nicht nur zu winken, er gestikulierte auch, fasste sich theatralisch an den Kopf, um die Übermacht seiner Gedanken zu karikieren, ironisierte ihr Überfließen mit Haareraufen, Mattscheibenwischen, Grimassenschneiden, warf dann Kusshände und Stinkefinger gleichzeitig über die Straße und lächelte schließlich, die Finger zum Victoryzeichen gereckt, galant in die surrenden Kameras. Je mehr er jedoch agierte, desto toter schien die Fassade. So einfach machten sie es ihm nicht! Er fasste sich wieder an den Kopf und hatte einen «Geistesblitz»: Natürlich findet die Party in Sichtweite statt! Natürlich und wahrscheinlich in diesem Haus gegenüber. Also folgte er dem Ruf des Hauses. Dort würde wohl die Party sein. Dort würden sie sich erklären können.
Ein Schweinekopf hing über dem von vertrockneten Schlingpflanzen umrankten Torbogen, darunter in ungelenken Lettern: SCHWEINEPEST. Schritt für behutsamen Schritt betrat Magnus den Vorderhof, als sei er vereist. Zu seiner Linken glotzten ihn abgewrackte Wohnwagen und Busse an, mit laienhaften Graffiti besprüht und von vergilbten Vorhängen in den trüben Fenstern vermummt, während rechts eine ausgeglühte Feuerstelle den Geruch von Ruß und altem, verbranntem Fett verbreitete. Hinten, an der Hauswand, saßen zwei große, magere Gestalten auf einer Bank, mit verfilzten, schlampig gefärbten Haaren und doppelten bis dreifachen Nasenpiercings, mit zerrissenen, buttonbewachsenen Lederjacken und herunterhängenden Nietengürteln — Relikte eines Punkgestus, der so sinnlos war, dass er nicht einmal mehr als Spiel funktionierte. Aber Magnus war sich seiner alten Einsichten nicht mehr sicher. Vielleicht waren die Punks nur engagiert, für seine Party. Vielleicht hatten sie sich ihre Punk-Haltung erst vor einer Woche zugelegt, und er musste sie wieder von diesem Trip herunterbringen? Es würde sich herausstellen, wie alles.