Sie nuckelten an ihren Bierflaschen und starrten ihn gelangweilt bis feindselig an. Rechts von ihnen stand eine Tür weit offen, Easy-Listening-Musik klang leise heraus. Schemenhaft wurde eine Theke sichtbar. Sofort hatte Magnus Lust auf ein Bier. Die Pseudopunks könnte er gleich noch befragen. Bier bedeutete Energie, und er brauchte reichlich davon, um die letzten Hürden vor der Auflösung des Rätsels zu nehmen. Nun hatte er ja Zeit, stand vor dem Ziel, war vielleicht sogar ein wenig zu früh; ein Bier würde ihm jetzt keiner übelnehmen; es würde ihm genau die richtige Dosis Lockerheit einimpfen.
«Eine Schluckimpfung, bitte», sagte Magnus und lächelte, wie immer, während er sich auf den Barhocker lümmelte. Der Barmann mit dem T-Shirt voller Ölflecken schaute ihn skeptisch an und schob ihm ein Hasseröder hin. Über der Theke hing eine Girlande aus winzigen, blinkenden Plastiktotenschädeln, die dem Gast zuzublinzeln schienen. Eine Punkfrau neben ihm löffelte Milchkaffee. Der Milchschaum kam Magnus für einen Moment pervers vor, so lockerweiß und schaumigheiß aufgequirlt. Keiner sagte ein Wort. In einer Ecke kickerten zwei Dreadlocks-Jungs, ganz in ihr Spiel versunken. Die Lounge-Musik knisterte wie Zuckerwatte.
Magnus beruhigte sich; jeder Schluck Bier beruhigte ihn und ließ die Gedankenströme zäher fließen. Was soeben noch als Wellengang in seinem Kopf hin- und hergeschwappt war, verteilte sich nun in alle Glieder. Irgendetwas, das wusste er, stimmte nicht in seiner Rechnung. Was war passiert die letzten Wochen? Er konnte es nicht erkennen. Dass sich etwas zusammengebraut hatte hinter seinem Rücken, war offensichtlich; ob es gutartig war oder bösartig (ein Verdacht, der sich immer aggressiver aufdrängte), stand noch dahin. War er hier richtig? Waren der Hinweise nicht zu viele, waren sie nicht zu ungenau? Gab es denn nichts Konkretes mehr?
Er spülte das Bier hinunter, stand auf und wandte sich dem weißen Rechteck aus Licht zu. Das Licht änderte seine Körnung. Er ging los. Eine Stimme rief ihm etwas hinterher. Du hast nicht bezahlt. Sofort fuhr es mit Wucht durch sein Gehirn. Bezahlt wofür? Hatte er denn ein Verbrechen begangen? Sollte er für seine Euphorie bezahlen?
«Hey!»
Es war der Barkeeper.
«Ja?»
«Du hast noch nicht bezahlt.»
Entgeistert suchte Magnus nach einem Hinweis in dem Stoppelgesicht.
«Bezahlt? Wofür denn bezahlt?»
«Für deine zwei Bier. Drei Euro.» Herausfordernd lehnte sich der Barkeeper (der immer mehr einer Wachsfigur mit angeklebten Haaren glich) über den Tresen und hielt ihm die zerfurchte Handfläche hin. Magnus war sich völlig sicher, dass er bezahlt hatte. Er bezahlte immer sofort, nicht erst nach dem Verzehr. Außerdem hatte er nur ein Bier getrunken.
«Ich habe schon bezahlt. Außerdem habe ich nur ein Bier getrunken.»
«Nein, hast du nicht. Drei Euro.» Die Wachsfigur baute sich bedrohlich vor ihm auf, mit verklebten Augen. Magnus rätselte, was gemeint sein könnte. Vielleicht war es nur eine Losung für: Die Party kostet Eintritt? Vielleicht musste Magnus sich an irgendjemandes Internetkosten beteiligen? Da er noch nicht ganz verstanden hatte, nach welchen Regeln dieses Spiel konstruiert worden war und wie weit sie reichten, sprach er kein weiteres Wort und bezahlte. Die Wachsfigur ließ Luft ab und fiel zufrieden in sich zusammen.
Draußen änderte das Licht unaufhörlich seine Farbe. Magnus suchte nach einer künstlichen Beleuchtung, fand aber keine. War der Himmel schon immer so wild gewesen? Er kicherte, ging hinüber zu den Punks und fragte sie, ob sie etwas von der komischen Party wüssten. Sie antworteten nicht, glotzten ihn nur an.
«Von der Party? Diese Internet-Party?»
Sie sagten etwas in einer Sprache, die er nicht verstand. Ein gewitzter Schachzug.
«Bitte?»
«Nix deutsch. Nix verstehn. Russki.»
«So sprechen Ausländer nur in schlechten Comics», sagte Magnus und fügte hinzu: «Wenn das gerade Russisch gewesen sein soll, dann spreche ich Hindi.»
Die Punks stellten sich taub und dumm, standen auf und trotteten über den Platz zum Ostflügel des Hauses. Magnus folgte ihnen, denn es war offensichtlich, dass sie das wollten; auch wenn sie ihn vordergründig ignorierten und lachhafte Fetzen ihres Russisch-Kauderwelschs austauschten; auch wenn oder gerade weil sie ihn keines weiteren Blickes würdigten. So reserviert verhalten sich nur Menschen, die einen anlocken wollen. Sie schlossen eine beklebte Eisentür auf und gingen hinein. Magnus fing die Tür auf, bevor sie wieder ins Schloss fallen konnte, lächelte siegesgewiss und hatte ein mit Postern tapeziertes Treppenhaus vor sich.
Ein miefiger Geruch schlug ihm entgegen, ein Geruch von feuchtem, schimmelndem Papier, von Moder, Leim und Patschuli. Die Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen; es ist die Dunkelheit, die blendet, dachte Magnus, nicht das Licht. Er trat ein. Die beiden Russen sprangen behände die Stufen hinauf, er sah nur noch ihre Doc Martens um die Ecke wirbeln, und waren im nächsten Moment auch schon verschwunden. So war das also. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß und achtete vor jedem Schritt auf Seife oder Nägel, prüfte sorgsam jede einzelne Stufe, ob sie seinem Gewicht auch standhielt, nicht vielleicht präpariert war. Er traute diesem Treppenhaus nicht mehr, diesem Vorraum zum Ziel, der sicherlich von lustigen Schikanen und bösen Finten durchsetzt war. Auffällig harmlos die Geräuschkulisse: Kinderstimmen mischten sich mit Reggae-Musik; irgendwo pfiff ein Teekessel; ein Hund winselte aus dem Keller herauf. Draußen rauschten Autos vorbei. Alles wie immer, Villa? Alles wie immer.
Die Gewissheit wuchs, dass er hier richtig war. Nur musste er den letzten Raum finden. Die Wände waren voll mit Plakaten und Zetteln. Pfeile stachen ihm ins Auge, Pfeile in alle Richtungen, hoch, runter, schräg links, gleich rechts; Vektoren, die sein Koordinatenvertrauen nur verwirren sollten. Fotokopierte Porträts von politischen Gefangenen, für deren Befreiung geworben wurde, klebten dicht aneinander, darüber schlecht gezeichnete Partyflyer, Bücherlisten alternativer Seminare, daneben Privatanzeigen für Gitarrenstunden, Aufrufe zur Revolution, Schablonengraffiti. Magnus hörte ein Raunen. Kam es aus der Luft, kam es aus den Papieren? Sein Blick blieb an einem Aufruf zum revolutionären ersten Mai hängen: ein brennendes Auto, ein roter Stern, ein Tötet-den-Kapitalismus und ein Nietzsche-Zitat. In seinem Kopf knirschte es. Was hatte mit ihm zu tun, was nicht? Der Filter war von zu vielen Bits und Bytes verdreckt, die Zeichen und Bilder konnten ungehindert durch seine Augen ins System strömen, nackt und direkt und scharf und grell, und dort herumpoltern, anecken, Konzepte verbeulen, um im nächsten Moment wieder hinauszustürmen, weil andere schon nachdrängten.
Er schloss die Augen.
Stop.
Genug gezaudert, gelesen, gerechnet. Ein Mensch musste her. Ein Mensch würde ihm Auskunft geben. Er müsste einen Menschen treffen. In so einem besetzten Haus wimmelt es doch nur so von Menschen und Hunden? Er rannte die Treppen hinauf, nahm zwei, drei Stufen auf einmal, drückte eine Türklinke hinunter, verschlossen, wieder hoch, die nächste Klinke, verschlossen, Tür daneben, Klinke, offen. Dahinter ein verhangener Gang, unbegreifliches Chaos, versiffte Ikearegale, vollgestopft mit Zeitungen und Stofffetzen, am Ende sah er einen sonnendurchfluteten Raum, mit alten Sofakissen und Bettlaken ausgelegt. Eine bebrillte, magere Frau, die gerade damit beschäftigt war, Zeitungspakete unter die Regale zu schieben, blickte ihn an.
«Ja?»
«Gibt es hier eine Party?»
«Eine Party? Nein.» Sie stand jetzt vor ihm, war hässlich wie die Nacht. Ihr Rock bestand aus ledernen Flicken.