«Sind hier nicht diese Internetleute?» Er starrte über ihre Schulter weg in das Zimmer. Ein Kind turnte auf einer Matratze herum.
«Internetleute? Wie heißen die denn?»
«Ich weiß nicht … Arne? Ist ein Arne hier? Oder eine Villa?»
Die Frau sagte nichts mehr.
«Oder ein Johnny Japan? Ein Weazle? Sven und Elke?»
«Wo wohnen die denn?»
«Bitte?»
«Wo wohnen denn diese Leute?»
«Ich weiß es nicht. Villa?» Er rief Namen in den Raum. Das Kind, rasierter Kopf, Löffel in der Hand, näherte sich.
«Weazle? Raoul? Jonna? Villa!»
«Wo! Wohnen! Die! Denn!» Die Frau geriet außer sich, ihre Halssehnen spannten, eine Ader an der Schläfe trat hervor. «Wo wohnen die?»
Magnus starrte sie an. Esoterische Bitch!, dachte er. War die verrückt? Er hatte ihr doch gesagt, dass er es nicht wusste! Weiter unten im Treppenhaus rumpelte es, Schritte hallten hoch, Stimmen wurden lauter. Das Kind lugte hinter dem Rock der Frau vor, mit großen blauen Augen, und schüttelte den Kopf. Es hielt einen Löffel in der Hand. «Geh weg!», rief es. Seine Augen weiteten sich. «Nein!», rief es flüsternd. «Geh weg!»
Die Lippen der Frau bebten. Wo wohnen die denn? Sie schob ihren Kopf vor wie ein Geier und rang nach Atem. Das Gerumpel hinter Magnus war jetzt ganz nah. Er drehte sich um.
«Was ist denn los hier?», keifte eine hohe, raue Männerstimme. Das dazugehörige Gesicht kam um die Ecke: schielende Augen, köterblonde Dreadlocks und Zähne wie jüdische Grabsteine.
«Was willste?»
Grabgeruch, nasse Erde, Restschlamm in Kannen, welke Blumen. «Häh? Häh?» Rotunterlaufene Augen schielen dich an, vom inneren Bierdruck ausgebeult.
«Was du willst!», brüllte der Typ. Sein Atem roch nach Sellerie und Karies und Alkohol und Lauge.
«Ich, äh», sagte Magnus — und suchte das Auge, das er anreden sollte, keines schien ihn anzusehen —, «hier wohnen doch diese Leute, oder?»
«Welche Leutäh?»
«Die Leute, die ich suche. Meine Freunde sind bestimmt auch hier.»
«Hau ab», sagte der Typ, knurrend, witzlos, ganz nah an Magnussens Gesicht.
«Aber —»
«Hau ab, sag ich.»
«Nein, ich bleibe. Im Gegenteil.» Magnus machte Anstalten, an der Frau vorbeizugehen, in die Wohnung.
«Nein», flüsterte das Kind, «geh weg, geh weg!»
Plötzlich packte ihn etwas von hinten, schleuderte ihn zurück ins Treppenhaus, gegen das Geländer. Ein Schmerz zuckte in der Wirbelsäule auf. Der hässliche Typ schnaubte und spannte seinen Bizeps an. «Hauste jetzt ab, oder nicht?»
Magnus war den Tränen nahe. «Aber ich bin mir sicher, dass —»
Ein Geschrei wie von einer Höllenhyäne ertönte, im Blitztempo war der Typ im Raum, schnappte sich einen Besenstiel, drehte um, lief wie von Sinnen auf Magnus zu, schlug dabei mit dem Stiel auf den Boden im Ninjazickzack, schrie noch lauter, der Besenstiel splitterte, Holz flog durch die Luft.
Magnussens Herz raste. Nur noch diese Prüfung, dachte er, nur noch diese letzte Prüfung.
Der Typ hob das spitze, zersplitterte Ende des Stiels hoch und hielt es unter Magnussens Nase.
«Was ist los, Alter. Alter, willst du es drauf anlegen. Ist dir dein Gesicht lieb, Penner. Dein kleines, hübsches Wichsergesicht, magst du es? Häh? Häh?»
Frau und Kind waren verschwunden.
«Du kannst mich gar nicht beeindrucken», sagte Magnus. «Du kannst —»
Im nächsten Moment traf es ihn an der Stirn, ein Licht blitzte auf, dann Dunkel, dann Schmerz, er torkelte rückwärts die Treppe runter, stürzte fast, sah nichts. Hielt sich am Geländer fest und kam zum Stehen. Dann wieder der Typ. Sein Gesicht entgleiste, löste sich in wirbelnde Kreise und Striche auf, ohne Kontrolle, schrie etwas, das Magnus nicht verstand, kam wieder näher. Noch ein Schlag gegen die Stirn, diesmal mit dem Handballen. Magnus fiel die Treppe hinunter. Lag da. Eine Tür rummste zu, Schlösser rasselten. Dumpf war zu hören, wie hinter der Tür das Kind laut weinte und schrie.
Wieder aufgerappelt ging er über den Vorderhof, jemand machte ein Feuer, Magnus hielt sich den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. Rauchschwaden wehten an ihm vorbei. Alles drehte sich.
Okay, sagte Magnus zu sich, was jetzt. Was jetzt.
Am Kopf blutend, trat er heftig in die Pedale, legte sein ganzes Körpergewicht hinein, überholte die Autos. Das Licht wurde brüchig. Irgendwohin musste es gehen. Irgendwo war die Party, oder der Empfang, oder die Erklärung. Es war spät. Sein Herz pochte gegen die Rippen, sichtbar, ähnlich dem Puls einer dünnhäutigen Echse. Magnus musste die Zeit überholen. Die wichtigsten Dokumente hatte er im Rucksack mitgenommen: ausgedruckte Webseiten, Stadtplan, Gedichtband, Magazine. Die Hinweise verdichteten sich auf die Schwartzkopffstraße. Hatte nicht einer seiner früheren Vermieter Schwarzkopf geheißen? Wie im Golfkrieg? Autos hupten müde. Muskeln liefen heiß. Magnus fühlte sich voller Leben, voller Angst. Er hatte den Schlüssel, irgendwo. Die Zeichen begannen zu leuchten. Das letzte Naturlicht starb hinten, jenseits der Charité, sanft und friedlich weg. Zweige knackten und gaben der Luft ihre Hitze zurück. Er kettete sein Rad an. Hier musste es sein, hier in der Nähe, ganz sicher. Seine Schritte klopften als Echo in der Hirnhaut, spürbar außen im Innendruck. Er folgte der Schleife, welche die Trambahn durch eine Wohnsiedlung zog, lauschte aufmerksam in die Luft und studierte das Stadtmagazin. Ein paar Takte klassischer, blechlastiger Musik, vielleicht Bruckner, dröhnten von fern herüber. Sonst nichts, nicht in der gegenüberliegenden Kneipe, nicht unter den Scheibenwischern der parkenden Autos. Was hatte sein Mitbewohner genau gesagt? Eine Tram kam an, hielt, wartete. Mit matschschweren Beinen stieg Magnus ein.
Vielleicht hatten sie auch eine kleine Anzeige im Stadtmagazin geschaltet? Wie er sie kannte, wahrscheinlich unter Lonely Hearts. Die Schlaglöcher und Gehwegschäden schüttelten ihn durch. «Geh weg, Schäden!», sagte er laut, erschrak vor dem Klang seiner Stimme, erinnerte sich gleichzeitig an das Kind, das Orakel mit dem Löffel, lachte dankbar für die Warnung, fuhr mit den Fingern über die leichte Schwellung am Hinterkopf, vergaß es sofort wieder. Die Umwelt verdichtete sich grinsend.
Du sehnst Dich nach einem zärtlichen Liebhaber? Nein! Und doch: Jede Frage meinte ihn, auf Umwegen erst, dann direkt. Dazu die Leserbriefe, die ihn förmlich ansprangen, allein durch die flackernden Überschriften: Großkotz! Ewiger Furor! Runterkommen! Mitunter gab es obszöne Wortspiele, Witze, Gemeinstes, das ihn auf unverschämte Weise anging und bloßstellte. Jede Frage machte ihn ein wenig nackter, verletzter, kleiner: Attacken gleich in den herznahen Kopf. Magnus schloss die Augen und konzentrierte sich auf die gleichmütige Bewegung der Tram. Er ließ das Stadtmagazin auf den Boden fallen. Es war verrückt geworden.
Und folgte dem bärtigen Student, der ihm zugenickt hatte, ein kurzes Stück. Der sah sich nicht um. Eine Werbetafel gab einen neuen Hinweis. Der Hinweis verflüchtigte sich wieder, bevor Magnus ihn genau fassen und analysieren konnte. Jetzt war eine Frau zu sehen, die für einen Fernsehsender warb, mit verbundenen Augen. Warum mit verbundenen Augen? Wieder änderte sich die Tafel. Ein riesiger Pfeil erschien, darüber ein schmatzendes, riesiges ZACK! Dort entlang also! Nein? Jemand forderte ihn auf, mit einem Krankenhaus zu telefonieren. Er sagte: «Doch, mach das.» Magnus drehte auf dem Absatz um und rannte die Straße hinunter. Die Zeichen und Autos knirschten vorbei. Wieder waberte ein ZACK!, auf einem dreckbespritzten Plakat, neben Frauen mit verzerrten Gesichtern voller Orgasmen, von der Kamera gefingert. Ein Stromkasten meldete: Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen! Panik kroch seine Brust hoch, tausendfüßig, kleinteilig wie ein Heer aus Blattläusen. Seine Brust öffnete sich wie eine Blüte. Seine Haut schmerzte empfindlich. Die Tags und Graffiti, sonst unbeachtet am Rande des Blickfeldes, drängten sich auf, wollten ausgesprochen werden. Seine Stimme klang jedoch umso fremder, je lauter er redete. Verhüllte, dunkelgesichtige Gestalten, deren Kiefer auf- und zuklappten, gingen vorbei. Ausgeweidete Telefonzellen standen im Weg. Gesprächsfetzen verhöhnten ihn. Personen, die er ansprach, antworteten nicht oder deuteten auf das Fußgängergrün der umschaltenden Ampel. Auch die Schaufenster, hämisch dekoriert, lispelten einander Doppeldeutigkeiten zu, prahlten mit Bebilderungen, diskutierten die Evolution und meinten doch nur ihn, Magnus, den Unfall.