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Seine Schulter lärmte in Schmerzen. Die flachen Bodennoppen drückten sich in seine Wange, Dreck zwischen seinen Zähnen. Das Gummi roch benutzt und dreckig, wie alte Hände nach einer langen Reise.

SIEBTER TEIL UNGEHEUER OBEN

but gravity always wins

Radiohead

Thorsten lag auf seinem Bett. Die Laken stanken. Er roch es nicht. Er zog sich ein paar Bartstoppeln aus dem Kinn und steckte sie in den Mund. Das machte er immer, wenn er leer, nüchtern und unbeobachtet war. Es gab ihm ein seltsames Gefühl der Befriedigung, ähnlich wie früher, als er sich die Hornhaut von den Füßen gezogen hatte. Er riss sich die Stoppeln aus dem Kinn und aus der Oberlippe, steckte sie in den Mund und aß sie. Obwohl blond am Haupt, hatte er eher hartes, dunkel glänzendes Barthaar. Die kleinen Härchen knackten, wenn er sie zwischen seinen Schneidezähnen zerrieb. Es war nicht der Verzehr an sich, es war eher das Zerknacken der Haare, welches ihm eine seltsame Genugtuung verschaffte.

Laura war weg.

Mit den Bartstoppeln hatte Thorsten von jeher ein Problem. Er konnte sich nicht täglich rasieren, denn das verursachte überall kleine Wunden und brannte höllisch. Rasierte er sich aber zu selten, gab es immer wieder störrische Haare, die zurück in die Haut wuchsen oder gleich darunter steckenblieben, zur Seite quertrieben, unter die Wurzel gar. So entstanden Infektionen und Pickel, wenn das Haar so tief wuchs, dass es gar nicht mehr zu sehen war, richtige Pusteln, aber nicht mit Eiter, sondern mit Wasser gefüllt. Die waren schwierig auszudrücken. Man musste in einem zähen, nicht zu gewinnenden Kampf immer wieder das Wasser aus der harten Pustel pressen, und bis etwas kam, dauerte es Minuten. Es fühlte sich an, als wäre die Pustel eine Missbildung im eigenen Fleisch.

Telefon. Laura, aus der Klinik.

«Und? Kommst du gleich?»

«Ja.»

«Wann?»

«In zwei Stunden.»

«Komm doch schon jetzt. Ich habe hier keinen.»

«Der Wagen hat einen Platten.»

«Und? Nimm ein Taxi.»

«Mache ich. Hier sind noch die Tabellen vom Brezelverkauf Nord.»

«Thorsten.»

«Halbe Stunde.»

«Ja?»

«Ja.»

«Gut.»

Pause.

«Was machst du?»

«Ich sag doch, hier sind diese Laugengebäck-Tabellen. Die müssen bis morgen durch sein. Echt.»

«Okay. Aber du kommst? In einer Stunde?»

«Ja.»

«Ist gleich kein Geld mehr im Apparat. Bis gleich, ja?»

«Ja. Bis gleich.»

Es piepste.

«Es ist gar nicht so schlimm hier.»

«Nein?»

«Nein, es ist —»

Klick.

Thorsten legte die Kinski-CD ein und schenkte sich einen Glennfiddich nach. Er legte sich hin. Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund ich schrie mir schon die Lungen wund nach deinem weißen Leib du Weib. Im Klee da hat der Mai ein Bett gemacht da blüht ein süßer Zeitvertreib mit deinem Leib die lange Nacht. Er hörte zu, wie Kinski stöhnte und ächzte, raunte und schrie, dann schnarrte wie eine Maschine, mit gerolltem R, perverser als jeder schwule Naziknallcharge, perverser als, wie hieß der Mitläufer, Gründgens, dann affektiert auflachte und leise kreischte und winselte.

Du bist wahnsinnig, dachte Thorsten. Du bist ein debiler Idiot, Klaus Kinski. Alles Lüge, was du sagst, angebliche blonde Bestie, dumpfbackiges Sexmonster, deine schwülen langen Nächte, deine Sprache, alles falsch.

Thorsten konnte das Röhren und Wimmern nicht mehr ertragen, stand auf und schaltete den CD-Player wieder aus. Stille. Er setzte sich auf sein Bett und blätterte in der Kinski-Autobiographie. Las, wie Kinski irgendeine asiatische Stewardess auf dem Flugzeugklo fickte. Anscheinend hatte Kinski nie auch nur einen einzigen Korb bekommen. Jedenfalls schrieb er nicht davon.

Thorsten las nur noch Schauspielerbiographien. Er würde sein Leben lang nichts anderes mehr lesen. Um sein Bett herum lagen in Stapeln die Biographien von Jean Seberg, Humphrey Bogart, Marcello Mastroianni, Groucho Marx, Helmut Berger, Romy Schneider, Peter Lorre, von noch vielen mehr. Die von Helmut Berger war irgendwie die leichteste, «mit Bianca Jagger und Gunther Sachs im Bett, und Billy Wilder mochte keine Avocados», die von Romy Schneider die schwerste, «ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht». Aber er mochte ihre Biographie am liebsten. Sie war am ehrlichsten.

Thorsten legte Kinski weg. Er schaute die leere, schattenlose Wand an. Er hat alle Bilder abgehängt. Selbst das Kitschkätzchen dieses einen Malers, der aussah wie David Bowie, lag auf dem Warhol-Stapel unter dem Schreibtisch, neben der Kiste mit seiner Plastiksaurier-Sammlung, und verstaubte. Thorsten hätte die Bilder auch verbrennen können. Aber das wäre albern gewesen. Abhängen reichte.

Er hörte der Stille zu. Es gibt verschiedene Formen von Stille, dachte er. Diese hier ist sehr trocken, sehr alt, dachte er, wie von irgendwo weither gekommen. Eine Stille wie aus einer Quelle. Mit wenig Natrium, dachte er, ohne Kohlensäure. Ohne auch nur einen Laut oder Hauch. Eine Stille mit ganz eigenem ph-Wert.

Quatsch, dachte er dann. Diese Stille ist eine Stille, mehr nicht.

Thorsten schaute aus dem Fenster; Thorsten schwieg.

Ein dumpfer Schwung, ein Luftzug. Die Tür ging auf. Augenaufschlag, gegen klebrige Widerstände, die Wimpern noch ineinander verhakt, verleimt, verstrebt. Eiternde, nässende Gitter, das Lid arbeitet gegen die auferlegte Lähmung, verkrampft vor Anstrengung. Dann ein Riss, Lichteinfall, die Drüsen wachen auf. Das Auge reißt auf, das Lid rudert hoch, die Pupille schreckt geblendet zusammen, liegt frei, trüb. Verschwommen sah Laura die Schwester. Es war Britta.

«Guten Morgen, Frau de Hio. Aufstehen, Frühstück!»

Dann war Schwester Britta wieder weg.

Laura setzte sich auf, ließ die Füße von der Bettkante hängen und kratzte sich am Hinterkopf. Ihr Speichel schmeckte schal und nach Kupfer. Das Bettzeug miefte nach Persil und Fußpilz. Sie war alleine im Zimmer. Sie wollte nicht, dass ein neuer Tag anfing. Aber der Tag war bereits da. Der Tag war weder zu verleugnen noch zu verscheuchen, genauso wenig wie dieses trockene Licht, das von draußen einfiel, das stichelte wie Stroh. Beide waren einfach da, der Tag, sein Licht, wie jeden Morgen, einfach da, unwiederbringlich, schrecklich einfach, banal.

«Und wiegen!», steckte Schwester Britta ihren Rattenkopf nochmals durch die Tür. «Heute ist Mittwoch. Kommen Sie, Frau de Hio, auf, auf! Die anderen sind schon längst fertig!»

Die Brötchen aus Gummi waren nicht schlimm. Die fade Konfitüre aus Portionspackungen war nicht schlimm, und die sich an den Rändern wellende Fleischwurst mit den Gemüsefitzeln drin, sie war auch nicht schlimm. Schlimm allein waren diese Fressen. Diese Fressen, die sich sofort stumm um den Kaffeetrog sammelten, sobald er hereingeschoben wurde. Diese stumpfen Fressen, die den Kaffee aus dem Kaffeespender zapften wie schwarzes Bier, ohne ein Wort zu wechseln, und ihren dumpfen wortlosen Frühschoppen abhielten, den Kaffee aus großen weißen Tassen tranken, als hinge ihr missratenes Leben vom nächsten Schluck ab. Die erste Tasse wurde gleich neben dem Trog reingekippt, kopfkratzend, in Eile, mit berlinerischer Zerknirschtheit, Baustellenstaub im Mund. Die nächste Tasse, hastig nachgezapft, konnte dann zum Frühstückstisch genommen und dort langsamer geschlürft werden, während das stumpfe Messer mit dem zähen Brötchen kämpfte. Hätte Laura ein Gefühl gehabt, es wäre blanker Hass gewesen. Sie konnte sich jedoch lediglich zu einer wertfreien Appetitlosigkeit in alle Richtungen aufraffen. Gesichtslos trank sie ihren Kaffee und war still.

Vier Tische, Plastikdecke, Wurstteller. Darum gruppierten sich die Patienten mit ihren Tabletts. Diesen Morgen saß Laura mit der lahmen Wühlmaus, der kultivierten Gedächtnislosen, dem paranoiden Kiffer und mit Svantje an einem Tisch. Kaum hatte Laura sie wahrgenommen, stand Svantje auch schon wieder auf, sabberte etwas Unverständliches, ging zum Geschirrwagen und stellte ihren Teller ab. Dann trottete sie hinaus, nachlässig angezogen, stinkend, dürr. Svantje blieb nie lange, nirgendwo. Immer stotterte sie etwas, wehklagte, schoss undeutliche, mit viel Spucke eingeseifte Wörter ab, die niemand verstand, ging dann weiter, immer weiter, irgendwohin, einen abgewetzten Tischtennisschläger in der einen Hand, die andere zur Faust geballt. Laura hörte, wie Svantje hektisch die Tür zu ihrem Zimmer aufriss, noch ein paar unverständliche Satzfetzen den Gang hinabschickte und dann die Tür zuknallen ließ.