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«Aber ein Placebo ist doch nur dann ein Placebo, wenn du nicht weißt, dass es ein Placebo ist», hatte Thorsten erwidert.

Stimmt dann sind aber viele Sachen Placebos, hatte sie gelächelt. Das hatte Thorsten nicht verstanden und dennoch genickt und brav zurückgelächelt.

David Bowie hat auch eine Single mit Placebo aufgenommen der Band jetzt Placebo kennst du doch? Sie war vorher auf einem geheimen David-Bowie-Gig gewesen, hatte sie erklärt, ein kleines Prelistening zu Promozwecken, für Popjournalisten. Sie sei nämlich Popjournalistin. Sogar die alten Hits hat er gespielt! Sie müsse morgen früh zu einem anderen Pressetermin und deshalb los jetzt, hatte sie gesagt, aber vielleicht könne man einmal bei Gelegenheit —?

Thorsten trank den schalen Bierrest, es schüttelte ihn. Der Taxifahrer sagte kein Wort. Draußen zog das erste Grau am Horizont auf. Er betrachtete die hingekritzelte Telefonnummer auf der zerknüllten Memo-Notiz, keine gewöhnliche Handschrift, eine Mischung aus Schreib- und Druckschrift, eher kompliziert.

«Fünfundzwanzig Euro achtzig», sagte der Taxifahrer, nachdem er ruckhaft angehalten hatte, und würdigte seinen Fahrgast auch zum Abschied keines Blickes.

Oben an der schweren Holztür hing Thorsten an der Klinke wie ein Surfer in Seenot, während er in Spasmen versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu versenken. Als es gelang, fiel er mit der Tür in die Wohnung, stürzte fast auf den Araberteppich, konnte sich gerade noch fangen. Er ging den langen Flur hinunter und kam sich mit jedem laut hallenden Schritt nüchterner und nüchterner vor. Vollständig angezogen legte er sich aufs Bett.

Laura regte sich unter der Decke, seufzte leise, kratzte sich in der Armbeuge. Er setzte sich auf, beugte sich über sie, sein Gesicht über ihrem Gesicht, ihr Atem roch nach Schlaf und Nikotin. Ihre Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, erst sehr langsam, hin und her, dann etwas schneller. Ob sie träumte? Wenn er sie jetzt umarmen würde oder ihre Wange streichelte, würde sie halb aufwachen und seine Zärtlichkeit erwidern, irgendwie. Ein Schwindel im Kopf. Ihm wurde übel. Er ließ den Kopf zurück ins Kissen sinken.

Die Spülung stürzte los, glasklare Strudel, die den blassen Urin hinabzogen. Auf dem Schaum tanzte die Zigarettenkippe wie eine Boje, kämpfte gegen Sog und Seegang, blieb über Wasser, löste sich zusehends auf. Der Filter quoll schon aus der gelben Hülse. Thorsten spuckte gleichgültig in das Getöse, zog nochmals ab, taperte zum Waschbecken. Dort benetzte er sich das Gesicht mit Wasser. Vergoldete Armaturen blinkten ihm entgegen wie die Auswüchse eines geheimen Schaltplans von unschätzbarem Wert. Er warf einen Blick in den Spiegel. Der schien nicht richtig eingestellt, alles darin pulsierte unscharf. Thorsten justierte seinen Blick nach, schielte probeweise, bewegte den Kopf vor und zurück wie auf einer Schiene. Schließlich gelang es ihm kurz, Spiegel und Blick aufeinander abzustimmen, und er strich den Seitenscheitel glatt. Dann spülte er den Mund mit Odol aus, es brannte fürchterlich, und warf ein Fisherman’s Friend hinterher. Er kontrollierte seine Zunge, zerfetzter Pelz, spürbar in Flammen, und gab sich eine Ohrfeige, um endlich wach zu werden.

Zurück im Büro spürte Thorsten Seegang in den Beinen; der Warhol schien verschobener als sonst, die grellen Farbflächen oszillierten, waberten übereinander. Er ließ sich in den Schreibtischsessel fallen, der erschrocken aufquietschte, und starrte die Kräne draußen an. Er trank einen Red Bull; dann einen Guaraná.

Françoise Starck, die Chefredakteurin (moosgrünes Kostüm, Muschel-Ohrclips), steckte den Kopf zur Tür herein: «Haben Sie einen Augenblick Zeit, Herr Kühnemund?»

«Ja, was ist denn», knurrte Thorsten möglichst freundlich. Im Hintergrund schwebten die beiden skandinavischen Grazien aus dem Vertrieb vorbei; in seiner Vorstellung sah er sie nackt und samenbespritzt.

«Das Briefing mit Herrn Büdenbender und Herrn Mode kann jetzt sofort stattfinden, haben Sie Zeit? Die Herren haben sich bequemt —»

«Aber natürlich», sagte Thorsten, «gerne, ich bin gerade frei.»

«Hier habe ich noch den Prospekt über die historischen Nutzfahrzeuge», sagte Françoise und legte ihn auf den Tisch. «Wegen der Tour der alten Trucks. Promotion-Aktion von Schmierstoffen und Tankkarten. Sie waren doch der Truckliebhaber?»

«Ja», sagte Thorsten, den Mund voller Spucke. Er wusste nicht, wovon sie redete. Seine Zunge fühlte sich an, als sei sie ein Schneckenmutant aus Gummibärchenfleisch.

«Läuft’s gut ansonsten? Morgen müssen wir die neuen Richtlinien für die Category-Management-Präsentation bei Engel besprechen, mit Schneider und Riaz.»

«Ja, können wir machen», sagte Thorsten. «Können wir alles machen. In Büdenbenders Büro, gleich? Ich komme in zehn Minuten, muss hier nur kurz —»

«Bis gleich», unterbrach sie ihn.

Büdenbender war ein talent- und biographiefreier Emporkömmling, eine Null im Armani-Anzug und mit Richard-Clayderman-Frisur, der aus irgendeinem Grund immer erschrak, wenn er Thorsten sah. So auch jetzt: Er wurde leicht bleich und grauhäutig um die Nase, als er von seinem Computer aufblickte. Das Leder seines Sessels quietschte mitleidig. Büdenbender hatte keinerlei Interessen. Während die Chefredakteurin gespalten war von der Kluft zwischen Wirtschaft und Kultur und immer wieder durchklingen ließ, dass sie alle Truffautfilme gesehen habe und sich für die Gothic Novel des neunzehnten Jahrhunderts interessiere, stand Büdenbender nur sprachlos da und fuhr sich nachdenklich durchs halblange Haar. Seine Welt bestand aus Tiefkühlpizzen und Powerriegeln und wahrscheinlich auch aus spröden Berlin-Mitte-Blondinen, mehr nicht. Und woraus besteht die meine?, ging es Thorsten unscharf durch den Kopf.

Nach zwei Minuten kam Mode dazu, ein großer, dicklicher Junge, der im Supermarkt der Eltern aufgewachsen und nach dem BWL-Studium sofort als Shopberater im Verkauf Ost 5 eingestiegen war.

Gerade Tankstellen seien ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Vertriebskanal für Energy Drinks und isotonische Sportgetränke. Dass Tankstellen und Energy Drinks auf so extreme Weise voneinander profitieren, läge an mehreren Faktoren, erklärte Thorsten:

Erstens seien Tankstellenkunden generell experimentierfreudiger und eher bereit, etwas Neues, ihnen Unbekanntes auszuprobieren.

Zweitens dominierten Tankstellen das Nachtgeschäft, jugendliche Nachtschwärmer und gestresste Arbeitstiere griffen gerne einmal, um wach zu bleiben, zu den schlanken Charakterdosen. Was

drittens auch Fahrradfahrer oder Sportler täten, die an einer Tankstelle rasteten und Körperenergie auftanken wollen. Die Chefredakteurin ging kurz hinaus, um etwas zu kopieren; der dicke Herr Mode schloss sich ihr an.

Viertens würden Energy Drinks meist eher spontan als auf Vorrat gekauft, was mit dem

fünften Punkt zusammenhinge, den man nicht unterschätzen dürfe: In guten Tankstellen seien die Muntermacher immer gekühlt vorrätig. Die ausreichende Kühlung der Ware sei substanziell, denn warme Energy Drinks würden in etwa so viel Freude und Sinn machen wie lauwarmer Kaffee. Die meisten Supermärkte hätten dies noch nicht begriffen, weshalb Red Bull und Konsorten sich dort auch weniger schnell im Regal drehten. Die Chefredakteurin kehrte mit einem Stapel Papier zurück. Mode stand hinter ihr.