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Hier rasteten wir, und nachdem wir den Raum, so gut es die Umstände und die Dunkelheit zuließen, gesäubert hatten, verzehrten wir unser aus kaltem Fleisch bestehendes Abendbrot - das heißt, Leo, Job und ich, denn Ayesha rührte, wie ich wohl bereits erwähnte, nie etwas anderes als Kuchen, Obst und Wasser an. Während wir aßen, stieg der Vollmond über die Berge empor und erfüllte die Kammer mit seinem silbernen Licht.

»Was glaubt ihr, warum ich euch heute abend hierher führte, mein Holly?« sagte Ayesha, ihren Kopf auf die Hand stützend und auf den Mond blik-kend, der wie eine himmlische Königin langsam über den erhabenen Säulen aufstieg. »Ich führte euch hierher - nein, es ist wirklich seltsam, doch weißt du, Kallikrates, daß du in diesem Augenblick auf derselben Stelle liegst wie dein Leichnam damals vor vielen Jahren, als ich ihn zu den Höhlen von Kor zurücktrug? Ich sehe es ganz genau vor mir - ein entsetzlicher Anblick!«, und sie erschauderte.

Leo sprang auf und setzte sich rasch auf einen anderen Platz. So tief die Erinnerung Ayesha beeindrucken mochte - ihm war deutlich anzumerken, daß ihre Worte ihm gar nicht behagten.

»Ich führte euch hierher«, fuhr Ayesha fort, »um euch den wunderbarsten Anblick zu zeigen, den je eines Menschen Auge gesehen hat - die Ruinen von Kor im Schein des Vollmondes. Wenn ihr mit eurer Mahlzeit fertig seid - ach, könnte ich dich dazu überreden, Kallikrates, nichts als Früchte zu essen, doch das wird sicher kommen, wenn du in dem Feuer gebadet hast. Auch ich aß dereinst Fleisch wie ein wildes Tier. Wenn ihr fertig seid, wollen wir hinausgehen, und ich will euch diesen großen Tempel und die Gottheit zeigen, welche die Menschen einst darin anbeteten.« Natürlich erhoben wir uns sogleich und machten uns auf den Weg. Und hier versagt mir wiederum die Feder. Eine bloße Aufzählung von Maßen und Einzelheiten der verschiedenen Tempelhöfe würde nur langweilen, doch andererseits weiß ich nicht, wie ich die jegliche Einbildungskraft übersteigende Pracht, die wir sahen, beschreiben soll. Ein düsterer Hof löste den andern ab, getrennt durch Reihen mächtiger Säulen, von denen manche, vor allem jene an den Toren, vom Sockel bis zum Kapitell Skulpturen schmückten, und eine leere Kammer folgte der anderen, die Phantasie lebhafter anregend als von Menschen gefüllte Straßen. Und über allem schwebten das tödliche Schweigen der Toten, das Gefühl völliger Verlassenheit, der düstere Geist der Vergangenheit! Wie schön und doch wie traurig! Wir wagten kein lautes Wort zu sprechen. Selbst Ayesha erfüllte vor diesem Altar, demgegenüber sogar die Zahl ihrer Jahre gering schien, tiefe Ehrfurcht; wir flüsterten nur, und unser Flüstern schien von Säule zu Säule zu eilen, bis es sich in der stillen Nachtluft verlor. Hell schien das Licht des Mondes auf die Säulen und Höfe und verfallenen Mauern, all die Risse und Spalten mit seinem silbernen Schleier umhüllend und ihre graue Majestät in die Glorie der Nacht kleidend. Die Tempelruine von Kor im Schein des Vollmondes war ein wunderbarer Anblick. Und wunderbar war es, sich vorzustellen, wie viele Jahrtausende die tote Kugel dort oben und die tote Stadt hier unten einander angeblickt und in der Einsamkeit des Weltraums die Geschichte ihres versunkenen Lebens und ihres lang entschwundenen Ruhms erzählt hatten. In dem fahlen Licht sahen wir die stillen Schatten langsam über die grasbewucherten Höfe kriechen wie die Geister alter Priester, die durch die Behausungen ihrer Gottheit wandeln; und immer mehr wuchsen die langen Schatten, bis die Schönheit und Erhabenheit des Bildes und die Majestät des Todes ganz Besitz von unseren Seelen ergriffen und eindringlicher von einer längst ins Grab gesunkenen und vergessenen Pracht zu uns sprachen als das Geschrei ganzer Heerscharen.

»Kommt«, sagte Ayesha, nachdem wir, ich weiß nicht wie lange, in diesen Anblick versunken dagestanden hatten, »nun will ich euch der Schönheit steinerne Blume und die Krone aller Wunder zeigen, welche, der Zeit trotzend, die Herzen der Menschen mit Verlangen füllt nach dem, was hinter ihrem Schleier sich verbirgt«, und ohne auf eine Antwort zu warten, führte sie uns durch zwei weitere von Säulen umgebene Höfe in das Allerheiligste des uralten Tempels.

Und dort, in der Mitte des innersten Hofes, der etwa fünfzig Meter im Quadrat messen mochte, traten wir vor das großartigste allegorische Kunstwerk, das menschliches Genie vielleicht je hervorgebracht hat. Genau im Mittelpunkt des Hofes ruhte auf einem viereckigen Felsblock eine Kugel aus schwarzem Stein von etwa zwanzig Fuß Durchmesser, und auf dieser Kugel stand eine riesige geflügelte weibliche Figur von solch bestrickender göttlicher Schönheit, daß mir, als ich sie, ins sanfte Licht des Mondes getaucht, erblickte, der Atem stockte und der Schlag meines Herzens einen Augenblick aussetzte.

Die Statue war aus einem so reinen und weißen Marmor gehauen, daß sie selbst nach so vielen Jahrtausenden noch im Licht der sie umspielenden Mondstrahlen leuchtete, und ihre Höhe mochte etwas über zwanzig Fuß betragen. Es war die geflügelte Gestalt eines Weibes von solch wunderbarer Lieblichkeit und Anmut, daß die Größe ihre so menschliche und dennoch so überirdische Schönheit eher zu erhöhen als zu verringern schien. Sie stand vorgebeugt und hatte ihre Flügel halb ausgebreitet, wie um mit ihnen ihr Gleichgewicht zu bewahren. Die Arme streckte sie aus wie ein Weib, das den Geliebten umfangen will, und ihre ganze Haltung schien zärtlichstes Sehnen auszudrücken. Ihre makellose Gestalt war nackt, mit Ausnahme - und das war das seltsame - des Kopfes, den ein dünner Schleier verhüllte, so daß wir ihre Züge nur erahnen konnten. Das eine Ende des Schleiers fiel über ihre linke Brust, deren Umrisse darunter hervortraten; das andere, von dem ein Teil abgebrochen war, schwebte hinter ihr in der Luft.

»Wer ist sie?« fragte ich, mit Mühe meinen Blick von der Statue losreißend.

»Kannst du es nicht erraten, o Holly?« erwiderte

Ayesha. »Hast du so wenig Phantasie? Es ist die Wahrheit. Sie steht auf der Welt und ruft den Menschen zu, ihr Antlitz zu entschleiern. Lies die Inschrift auf dem Sockel; sie dürfte aus dem heiligen Buch der Korer stammen«, und sie führte uns zu dem Fuß der Statue, in der eine aus den üblichen chinesisch aussehenden Hieroglyphen bestehende Inschrift so tief eingegraben war, daß sie, zumindest für Ayesha, noch lesbar schien. In ihrer Übersetzung lautete sie wie folgt:

»>Gibt es denn keinen Mann, der mich entschleiern und auf mein Antlitz blicken und meine Schönheit schauen will? Ihm, der mich entschleiert, will ich angehören, will Frieden schenken ihm und die süßen Kinder des Wissens und gute Werke.<

Und eine Stimme rief: >Mögen auch alle dich suchen und begehren, höre! Jungfräulich bist du, und Jungfrau sollst du bleiben bis ans Ende aller Zeiten. Kein Mann, kein Sterblicher wird je dir deinen Schleier lüften. Allein der Tod kann dich entschleiern, o Wahrheit!<

Und die Wahrheit hob flehend ihre Arme und weinte, weil jene, die sie begehrten, sie nie gewinnen, nie ihr Antlitz schauen sollten.«

»Wie du siehst«, sagte Ayesha, als sie geendet hatte, »war die Wahrheit die Göttin des alten Volks von Kor; ihr weihten sie ihre Altäre, sie suchten sie, obgleich sie wußten, daß sie sie nie finden würden.«

»Und so«, fügte ich traurig hinzu, »ist es bis zum heutigen Tage. Die Menschen suchen sie und können sie nicht finden und werden sie, wie diese Inschrift sagt, nie finden; denn nur im Tod läßt sich die Wahrheit finden.«

Nach einem letzten Blick auf diese verschleierte überirdische Schönheit - die so rein und vollkommen war, daß es fast schien, als leuchte durch die marmorne Hülle eines lebendigen Geistes Licht, die Menschen mit hehren und erhabenen Gedanken zu erfüllen -, auf diesen zu Stein gewordenen Dichtertraum von Schönheit, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde, wandten wir uns ab und wanderten durch die weiten mondhellen Höfe zurück zu der Stelle, von der wir aufgebrochen waren. Ich sah diese Statue nie wieder, und dies bedauere ich um so mehr, als auf der großen, die Welt darstellenden Steinkugel, auf der sie stand, Linien gezogen waren, in denen wir wahrscheinlich, wäre es heller gewesen, eine Karte des Universums entdeckt hätten, wie es den Korern bekannt war. Auf jeden Fall darf man annehmen, daß diese längst versunkenen Anbeter der Wahrheit über wissenschaftliche Kenntnisse verfügten und erkannt hatten, daß die Erde rund ist.