Das letzte Mal, als Harry etwas ähnlich Widerliches gerochen hatte, lag ein paar Jahre zurück. Damals hatte im Hochsommer drei Tage und Nächte lang kein Lüftchen über der Stadt geweht und der Fluss war fast zum Stillstand gekommen.
Er machte sich auf den Heimweg und fiel dabei unbewusst in die eigentümliche Gangart, die für alle Einwohner von Urbs Umida typisch war: gesenkter Blick und instinktiv auf der Hut vor den buckligen Pflastersteinen und Schlaglöchern unter den Füßen. Wenigstens schneit’s nicht, dachte er. Und während er so dahinging, verfolgten ihn die Visionen dessen, was er eben gesehen hatte. Tief sog er die kalte Nachtluft in die Lungen. »O Herr im Himmel«, stieß er ein ums andere Mal aus. Sich vorzustellen, dass manche Leute immer wieder dorthin gingen, um sich das Vieh anzuschauen! »Wie können sie das tun?«, überlegte er laut. »Und warum?« Doch schon fing er an, selbst einen zweiten Besuch in Erwägung zu ziehen. Konnte die Bestie denn tatsächlich so abschreckend gewesen sein? Vielleicht würde er noch einmal hingehen, in einer Woche oder so, vielleicht in ein paar Tagen, nur um sich zu überzeugen, dass ihm seine Fantasie keinen Streich gespielt hatte …
Den Kopf tief gesenkt gegen den beißenden Wind, bemerkte Harry den Mann nicht, der aus einer Seitengasse kam und neben ihm herging.
»So habt Ihr es also gesehen?«, fragte der Mann.
Erschrocken blieb Harry stehen und sah auf, doch weil sich ausgerechnet in diesem Augenblick der Mond hinter den Schneewolken verbarg und die nächste Straßenlampe ein Stück entfernt war, wirkte die Gestalt neben Harry nur wie ein Schatten an der Mauer.
»Gesehen? Was?«
»Das Biest«, raunte sein unbekannter Begleiter.
»Ja«, sagte Harry, erleichtert, es laut aussprechen zu können. »Ich habe das Gefräßige Biest gesehen.« Ihm war, als hätte er gerade vor einem Priester gebeichtet. Zumindest stellte er sich dieses Gefühl so vor, denn eine Kirche hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr von innen gesehen.
»Und? Wie war’s?«
Harry runzelte die Stirn. »So abscheulich, dass es mir glatt den Appetit verdorben hat.«
»Erklärt mir«, sagte der Mann, »was hat das Biest an sich, dass Ihr’s unbedingt sehen wollt?«
»Na ja«, sagte Harry und ging langsam weiter. »Ich kann nicht sagen, was es genau ist. Aber es ist wie mit allem Hässlichen: Man will eigentlich wegschauen, aber man kann nicht.«
»Man kann nicht?«, sagte der Fremde zweifelnd.
»Es ist schwierig zu erklären«, sagte Harry fast entschuldigend. »Warum fragt Ihr?«
Der Mann schien ihn nicht zu hören. »Seid Ihr der Meinung, das Biest sollte als Ausstellungsstück dienen?«
»Warum nicht?«, erwiderte Harry, inzwischen ein wenig verunsichert. Es kam nicht oft vor in der Stadt, dass ein vollkommen Fremder eine Unterhaltung anfing. Normalerweise beschränkten sich solche Gespräche auf ein drohendes »Geld her!«. Unter anderen Umständen – das heißt, wenn Harry nicht nach einer derart aufwühlenden Erfahrung unter Schock gestanden hätte – wäre er wahrscheinlich weggelaufen. »Was kann jemand oder etwas wie das Gefräßige Biest denn sonst tun?«, sagte er. »Hat Gott solche Kreaturen nicht zu unserer Belustigung erschaffen? Sie sind eine Mahnung für uns alle, dem Herrn zu danken, dass es nicht uns getroffen hat. Arme Teufel!« Für einen unreligiösen Menschen war Harry in diesem Moment ungewöhnlich stark mit Gott befasst.
»Meint Ihr, dass sich dieses Tier gern anglotzen lässt?«
Allmählich ging Harry dieses Verhör auf die Nerven. »Die Leute brauchen nun mal ihre Unterhaltung. Ich habe bezahlt, um das Biest anzuschauen, und ich habe es gesehen. Und überhaupt muss ich jetzt nach Hause, also gute Nacht.«
Genau diesen Augenblick wählte der Mann, um sich Harry in den Weg zu stellen. Verärgert darüber und ein wenig erschrocken bog Harry in die kurze Gasse zu seiner Rechten, die zum Fluss hinabführte. Er ging schnell, ahnte aber, dass der Mann ihm folgte; er konnte Schritte im gefrorenen Schnee knirschen hören und gleichzeitig vernahm er ein eigenartig schwirrendes Geräusch. Mit dem Rücken zum Fluss gewandt drehte Harry sich um und fragte den näher kommenden Fremden angriffslustig: »Warum folgt Ihr mir?«
»Ihr habt mir alles gesagt, was ich wissen wollte«, erwiderte der Mann, womit er Harrys Frage zum zweiten Mal einfach überging. »Und ich danke Euch, dass Ihr Euch Zeit genommen habt.« Dann, ehe Harry begriff, wie ihm geschah, stieß ihm sein Verfolger einen kurzen Stock gegen den korpulenten Bauch. Harry spürte einen plötzlichen Schmerz durch seinen Körper schießen, sodass er krampfhaft seine Brust umschlingen musste und unwillkürlich zurückwich, fassungslos, außer Atem. Wieder hörte er das Schwirren.
»Was … was … ist das?«, keuchte er.
»Nichts, was Ihr je erfahren werdet«, kam die Antwort.
Dann spürte Harry einen zweiten überraschenden Schlag und stürzte gegen die Mauer. Sein Kopf hing schon über dem Wasser, unter sich konnte er den Foedus hören und riechen. Blitzschnell schob ihm der Mann etwas in die Westentasche, und dann spürte Harry, wie kräftige Hände um seine Fußgelenke griffen und ihn über die Mauerkante hievten. Sein letzter Gedanke war: Was ist das in meiner Tasche? Eine Möhre oder eine Zwiebel jedenfalls nicht. Das Wasser klaffte auseinander wie ein Riss in billigem Stoff, nur um sich sofort wieder über ihm zu schließen. Danach war der Schnitt wie von unsichtbarer Hand geflickt und Harry sank ins Vergessen.
Kapitel 9
Deodonatus Snoad
Die äußere Erscheinung von Deodonatus Snoad war auch bei bestem Willen nicht anders zu beschreiben als mit ausgesprochen hässlich. Und selbst diese Formulierung muss als Freundlichkeit gelten. Das Hässliche in seiner körperlichen Gestalt war einzigartig. Sein gedrungener, schiefer Hals stützte einen höchst unvorteilhaft ausgeprägten Kopf, der viel zu groß für den krumm gewachsenen Körper war. In seinem unförmigen Gesicht saßen eine riesige, missgebildete rote Nase und ein Paar schmutzfarbene Augen, die halb unter der vorspringenden Stirn verborgen waren. Er war ein stark behaarter Typ, seine Augenbrauen wucherten ineinander und bildeten eine lange buschige Linie, die nur über der Nasenwurzel leicht absank. Wie bei vielen seiner Mitbürger waren seine Zähne, zumindest die verbliebenen, in äußerst schlechtem Zustand und verursachten ihm zeitweise große Schmerzen. Doch ein Lächeln kam Deodonatus ohnehin kaum je in den Sinn.
Schon als Baby war er keine Schönheit gewesen, was im Grunde genommen nicht ungewöhnlich war. Doch er sah so hässlich aus, dass selbst seine eigene Mutter ihn als Beleidigung für die Augen empfand. Als er größer wurde, starrten ihn die Leute an und wechselten die Straßenseite, um ihm aus dem Weg zu gehen. Er merkte schnell, dass die Welt da draußen erbarmungslos war, und so blieb er im Haus und schloss sich in seinem Zimmer ein. Er hatte einen wachen Verstand, brachte sich selbst Lesen und Schreiben bei und befasste sich mit allen wissenswerten Dingen, die zu seiner Zeit als wichtig galten.
Was seine Eltern anging, so hatte Deodonatus sie einst geliebt, doch bald verachtete er sie. Es war ihnen immer schwergefallen, ihn auch nur anzusehen, seiner Mutter ganz besonders, und bei seiner zunehmenden Bildung hatten sie ihm bald nichts mehr zu sagen. Kurz nach seinem zehnten Geburtstag beschlossen sie, dass sie ihre elterliche Verantwortung nun erfüllt hätten – unter den gegebenen Umständen sogar in bewundernswerter Weise, wie sie fanden. Eines Tages verkauften sie ihn an einen Schausteller.
Die nächsten Jahre verbrachte Deodonatus damit, von Stadt zu Stadt zu ziehen und sich unter dem Fantasienamen »Mr Scheusal« zu zeigen. Seine Nummer bestand darin, mit steinernem Gesichtsausdruck auf einem dreibeinigen Hocker in einer kleinen Nische zu sitzen und sich anstarren zu lassen. Wie gern die Leute glotzten! Hin und wieder musste er sich auch die Demütigung gefallen lassen, angestupst zu werden. Erst dann reagierte er mit einem bösen Knurren, sodass die Frauen kreischten und die Männer Dinge sagten wie: »Donnerwetter, was für ein reizbares Monster!«