Und während Deodonatus so dasaß und beobachtete, wie die Leute ihn anstarrten und voll Entsetzen die Hände vor die Münder schlugen, dachte er über die Natur der Menschheit nach. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die gesamte menschliche Rasse unausstehlich sei und jedes Unglück verdient habe, egal ob es nun durch Zufall oder mit Absicht über sie käme. Das war ein wichtiger Unterschied. Seitdem trug sich Deodonatus mit Rachegedanken. Nicht Rache an bestimmten Personen – das würde später kommen –, obwohl ihm seine Eltern das eine oder andere Mal als würdige Kandidaten in den Sinn gekommen sein dürften. Deodonatus verstand sich auf wirtschaftliche Zusammenhänge und befürwortete das Konzept von Angebot und Nachfrage. Jeder musste seinen Lebensunterhalt verdienen, und der Eigentümer der Wanderausstellung gab den Besuchern nur, wonach sie verlangten. Wenn jemandem eine Schuld zuzuweisen war, dann der Allgemeinheit, den Menschen also, die zum Glotzen kamen.
Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr trat Deodonatus als Mr Scheusal auf. Dann ließ er sich einen dichten Bart wachsen und machte sich eines Nachts davon. Aber nicht, ohne vorher den Schaubudenbesitzer zu fesseln und ihm sein Geld abzunehmen. Auf diese Weise finanziell ausgestattet, brach er nach Urbs Umida auf, einer für ihre Hässlichkeit berüchtigten Stadt. Dort hoffte er, in der Masse untertauchen und ein einigermaßen friedliches Leben führen zu können.
Es heißt, die Schönheit liege im Auge des Betrachters, doch die Erfahrung hatte Deodonatus anderes gelehrt. Er musste erkennen, dass er sich am besten überhaupt nicht sehen ließe, wenn er auch nur ein bisschen vom Leben haben wollte. Es heißt auch, man dürfe ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen. Schließlich ist es eine Binsenweisheit, dass es allein auf den Inhalt zwischen den beiden Buchdeckeln ankommt. Blickte man jedoch hinter Deodonatus Snoads abstoßende Erscheinung und schlug sein persönliches Lebensbuch auf, so war in seinem Fall der Inhalt noch weit scheußlicher als das Äußere. Geprägt von den Erfahrungen seiner Jugend war Deodonatus zu einem verbitterten, irregeleiteten Mann geworden, äußerlich wie innerlich kaum mehr zu retten.
Als Deodonatus zum ersten Mal durch das Tor ging und die Südstadt von Urbs Umida betrat, war ihm, als käme er nach Hause. Er sah sich um und lächelte. So eine hässliche, verlotterte Stadt, so viel Betrug und Heuchelei! Er quartierte sich im schmutzigsten Viertel ein und hatte sich bald eingewöhnt. In den Sommermonaten genoss er den beißenden Gestank des Foedus und im Winter grinste er höhnisch über die armen Teufel, die obdachlos waren und zwischen Dreckhaufen und Pfützen hausen mussten. Ab und zu wagte er sich sogar in den Flinken Finger und beobachtete aus dem Hintergrund seine Mitbürger, die sich dort von ihrer übelsten Seite zeigten.
Anfangs lebte er ganz gut von seinem unrechtmäßig erworbenen Geld, doch ihm war klar, dass er irgendwann ein regelmäßiges Einkommen brauchen würde. Aber womit sollte er das verdienen? Er entdeckte den Daily Chronicle von Urbs Umida, eine beliebte Zeitung, die wegen ihrer spektakulären Schlagzeilen, dem simplen Wortschatz und der großen Schrift eine breite Leserschaft hatte. Deodonatus schrieb einen Artikel über den Zustand der Gehwege (sie wurden immer wieder aufgegraben, damit Reparaturen an schlecht funktionierenden Wasserrohren durchgeführt werden konnten) und ließ ihn zum Zeitungsverlag bringen. Der Artikel wurde wohlwollend angenommen. Man fand Gefallen an Deodonatus’ empörtem Ton und seinem Sarkasmus, man verlangte mehr in dieser Richtung und er kam der Bitte prompt nach.
Das war der Beginn von Deodonatus’ Karriere beim Chronicle.
Er arbeitete bequem von seiner Unterkunft aus. Seine Vermieterin, selbst keine besondere Schönheit, war der Meinung, mit Geld ließe sich so gut wie alles kurieren, Abscheu eingeschlossen. Darum gab sie diesem Fremden gern ein großes Zimmer im obersten Stock des Hauses mit Blick über die Stadt. Viel mehr verlangte Deodonatus nicht und zum Glück für alle Beteiligten hielt er sich am liebsten in seiner eigenen Gesellschaft auf. So verbarg er sich während des Tages vor der Welt und wagte sich vor Sonnenuntergang kaum hinaus. Seine Artikel für die Zeitung ließ er durch den Sohn seiner Vermieterin abliefern, der für einen Penny Belohnung jeden Tag heraufkam, um sie abzuholen.
Bei Nacht, wenn Deodonatus von seinen regelmäßigen nächtlichen Gängen zurückgekehrt war, setzte er sich an den Kamin und las. Die Tage des Mr Scheusal schienen weit weg, und ab und zu überkam ihn ein seltsames Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Vielleicht war es ein Hauch von Glück.
Er fühlte sich nun sicher inmitten der Dinge, die ihm wichtig waren, nämlich seiner Bücher. Jederzeit konnte er sich aus dem bedrückenden Alltagsleben der Stadt in die Buchseiten flüchten. In beschaulicheren Augenblicken saß er gern über den Texten der alten Philosophen, der römischen wie der griechischen, denn sie hatten einem Menschen in seiner Lage viel zu sagen. Eine besondere Vorliebe hegte Deodonatus für Märchen. Es kam ihm so vor, als würden in diesen Geschichten außergewöhnlich viele Wesen von ihrem hässlichen Aussehen erlöst und in wunderschöne Menschen verwandelt werden. Doch wenn er dann im grellen Tageslicht den Spiegel enthüllte, der ihn immer daran erinnern sollte, warum er hier war, zeigte ihm sein Abbild, wie weit sein Leben von einem Märchen entfernt war.
Deshalb drehte er den Lampendocht herunter und verhängte den Spiegel, ließ aber die Fensterläden offen, damit er auf die Stadt schauen und ihren Geräuschen lauschen konnte. Er richtete sein Zimmer bequem ein und hielt es in Ordnung – bis auf seinen Schreibtisch. Der war übersät mit einer Fülle von Schreibutensilien – Papier, Federn und Tintenfässer –, außerdem lag immer Jonsens Wörterbuch bereit. An die Wand hatte er einige seiner zuletzt verfassten Artikel geheftet, von denen einer auf die Gefahren dahinrasender Pferde und Wagen hinwies. Die Schlagzeile hatte er besonders gut gefunden:
Mörderisches Tempo
führt zu Tumult im Matsch
Während Juno an diesem Abend schlafend in ihrem Kräuterdunst lag und Pin sein bewegtes Leben in seinem Tagebuch festhielt, stand Deodonatus am Fenster und sah hinaus auf die weißen Dächer. Sie glitzerten im Mondlicht, das auftauchte und wieder verschwand und einen tiefen Kontrast zum Foedus bildete, dessen schwarzes Wasser das Licht gierig aufsog. Deodonatus war unruhig in diesen Tagen. Er ging im Zimmer auf und ab, murmelte vor sich hin und zwirbelte sein Haar zu Knoten. Eine halbe Stunde später trat er an seinen Schreibtisch, tauchte die Feder in die Tinte und begann, fieberhaft zu schreiben.
Kapitel 10
Artikel aus dem
Daily Chronicle
von Urbs Umida
Unerfreuliche Vorgänge im Flinken Finger
Von Deodonatus Snoad
Verehrte Leser,
es gibt wohl kaum einen Bürger dieser Stadt, der noch nichts von den neuesten Ereignissen gesehen oder wenigstens gehört hätte, die im Flinken Finger vor sich gehen, diesem verrufenen Wirtshaus auf der Brücke – verdientermaßen verrufen, wie ich behaupten möchte. Wenn sich auch nichts Positives über diesen Ort sagen lässt, so muss man doch den Geschäftssinn der Wirtin Betty Peggotty loben. Wer könnte die Seejungfrau vergessen, die sie vor einigen Wochen ausgestellt hatte? Zugegeben, ihr Schwanz war ein wenig schlaff und sie war vielleicht auch keine solche Augenweide, wie man es sich von einem göttlichen Meerwesen vorstellt. Sie schien ziemlich fortgeschrittenen Alters, weshalb es vermutlich überhaupt gelungen war, sie einzufangen. Trotzdem aber war sie eine lebende, hin und wieder nach Luft schnappende Meerjungfrau.