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Der Boden war bedeckt von einer Schicht aus Sägemehl, Stroh und Schmutz, in der sich hier und da Spuren von Blut fanden. Der Lärm war ohrenbetäubend – Singen, Schreien, Kreischen, Lachen. Und erst die Gerüche. Oh, diese Gerüche! Für Pin verschmolzen sie zu einer wilden Kakofonie und er sog die Luft tief ein. Die ganze Erregung, die in der Schenke herrschte, teilte sich ihm über die Luft mit und er kostete sie voll aus. Da wurde gespielt, er konnte die Spannung riechen; da waren Verschwörungen im Gange, er konnte die Angst riechen; und da waren auch Fröhlichkeit und Begeisterung. Er roch alles: Blut und Schweiß und salzige Tränen, er roch die Getränke, den Fischgeruch der Hafenarbeiter und auch den exotischen Duft nach fernen Ländern, den die Seeleute mitbrachten. Sogar einen Hauch von Liebe roch er – einen Hauch nur, denn der Flinke Finger war nicht gerade der Ort, um einem Mädchen den Hof zu machen. Nachdem Pin sich satt gerochen hatte, wandte er sich an den neben ihm stehenden Mann.

»Der Knochenmagier?«, fragte er. Ein Grunzlaut und ein knorriger Finger wiesen ihn zur anderen Seite des Raumes, wo Pin eine Treppe sah. Oben stand ein Mann vor einer offenen Tür. Plötzlich war Pins Neugier geweckt und er stieg hinauf.

»Macht sechs Pence«, sagte der Mann an der Tür. »Dafür darfst du eine Frage stellen.«

»Und an wen?«

»An Madame de Bona.«

»Oh«, sagte Pin. Er konnte in den Raum hineinsehen, in dem sich bereits die Menschen drängten.

»Also, was ist?«, sagte der Mann ungeduldig. »Um acht Uhr wird die Tür geschlossen.«

Und schon fand sich Pin am hinteren Rand einer Menschenmenge in einem verdunkelten Raum wieder. Füße scharrten, überall wurde gemurmelt und Wortfetzen drangen in seine gespitzten Ohren.

»Hab schon mal gehört, wie sie die Zukunft vorhersagt, diese Frau Bona.«

»Die kann bestimmt alles sehen, wo sie doch tot ist und so.«

»Hier, hört mal her, Gott strafe mich, wenn ich lüge, aber Molly, ihr kennt doch die Molly von gegenüber, also, die hat nach ihrem armen Fred gefragt, versteht ihr, Fred, der gestern in den Foedus gefallen ist.«

»Der ist doch gestoßen worden, oder? Sollen irgendwelche Spitzel gewesen sein.«

»Egal. Jedenfalls hat diese Skelettfrau, die Bona, zu Molly gesagt, dass er glücklich wär und auf sie warten tut. Und ob ihr’s glaubt oder nicht, am nächsten Tag ist sie gestorben und ihm nachgefolgt.«

»Nein! In den Foedus?«

»Was? Nein, nicht in den Fluss, ins Grab.«

»Vom Foedus werden ja in letzter Zeit viele verschlungen, jetzt, wo sich dieser Obstkiller hier rumtreibt.«

Pin drängte sich durch die Menge nach vorn, wo er ein Podium sah. Etwa einen halben Meter von der Kante entfernt stand auf einem niedrigen Tisch ein flacher Sarg. Er war grob geschnitzt und hatte einen schlecht schließenden Deckel. Lächelnd dachte Pin an Mr Gaufridus, dessen peinlich genauem Standard dieser Sarg ganz und gar nicht entsprach. Im Hintergrund des Podiums war ein vierteiliger Wandschirm aufgebaut, hinter dem sich jemand bewegte.

Plötzlich verstummten die Leute. Ein Mann, von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Gewand gehüllt, trat hinter dem Wandschirm hervor. An seinem Hals hielt eine Silberbrosche einen dunklen Samtumhang zusammen, der in Falten von seinen Schultern fiel. Der schwere Stoff, prächtig bestickt mit gold- und bernsteinfarbenen Ranken und Früchten, wehte ihm beim Gehen um die Füße und enthüllte ein schimmerndes scharlachrotes Innenfutter. Seine unter dem Saum des Gewands sichtbaren Schuhe waren ebenfalls aus goldenem Stoff, hatten kleine Absätze und an den aufwärtsgebogenen Spitzen Quasten, die bei jedem Schritt leise raschelten.

Der größte Teil seines Gesichts war von einer großen Kapuze verhüllt, die ihm über die Stirn fiel und seine Augen halb verbarg. Seine Brauen waren dicht und grau, und seine blasse Haut glänzte unnatürlich. Über der Oberlippe trug er einen Schnurrbart, jedes Ende eingefettet und sorgfältig zu beiden Seiten des Mundes angeordnet, an der Kinnspitze wuchs ein schmaler weißer Bart. Seine Ärmel waren so lang, dass seine Finger kaum herausschauten, wenn er die Arme seitlich herabhängen ließ, und die schmalen Handgelenke sah man nur, wenn er die Arme ausstreckte.

Dann kam eine zweite Person hinter dem Wandschirm hervor. Sie trug ebenfalls Umhang und Kapuze, doch aus einem schlicht gewebten dunklen Stoff, dessen einziger Schmuck in zwei goldenen Knebelknöpfen bestand, die ihn zusammenhielten. Diese zweite Gestalt stieg leichten Schrittes vom Podium herunter und bewegte sich langsam durch die Menge der Zuschauer, wobei sie ein kleines tropfenförmiges Fläschchen an einer Silberkette rhythmisch hin und her schwenkte. Eine süßlich duftende Wolke kringelte sich in träger Spirale aus dem schmalen Flaschenhals. Pins Herz begann zu rasen und seine Knie zitterten. Diesen Geruch kannte er.

»Herzlich willkommen«, sagte der Mann schließlich. »Mein Name ist Benedict Pantagus, ich bin der Knochenmagier.«

Kapitel 13

Pins Tagebuch

Ich sitze im »Flinken Finger« in einer dunklen Ecke. Mein Geld reicht noch für ein kleines Bier, ich habe mir einen Tisch mit holpriger Platte gesichert und will versuchen, die Veranstaltung dieses Abends zu beschreiben. Was für eine Stadt der Betrügereien! Noch vor ein paar Tagen dachte ich, ich hätte das Merkwürdigste erlebt, was sie zu bieten hat. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass es eine Steigerung geben könnte. Und nun dieser Abend im »Flinken Finger«! Ich habe dieselben Leute wiedergesehen, die mich betäubt und bewusstlos in der »Cella Moribundi« zurückgelassen hatten. Kann man sich vorstellen, wie mir zumute war, als ich sie erkannte? Ich hätte doch platzen müssen vor Wut. Stattdessen wurde ich beim Einatmen des Wohlgeruchs friedlich und ruhig, um zum zweiten Mal Zeuge einer unglaublichen Vorstellung zu werden – hellwach dieses Mal und in aufrechter Stellung. Folgendes habe ich gesehen:

Nachdem sich Mr Pantagus vorgestellt hatte, kehrte er ans Kopfende des Sarges zurück.

»Ihr guten Leute«, sagte er, »Knochenmagier kann man nicht werden, als Knochenmagier wird man geboren. Ich habe die Fähigkeit, mit Toten in Kontakt zu treten, von einer langen Ahnenreihe von Magiern geerbt. Ich von meinem Vater, er von seinem und dieser wiederum von seinem. Und so durch die Jahrhunderte zurück bis in graue Vorzeit. Mag sein, dass die Welt durch den Aufstieg von Philosophie und Wissenschaft heute anders ist als früher, doch ich versichere Euch, es gibt auch in unserer Zeit noch Platz für jene, die Tote ins Leben zurückrufen können.«

An dieser Stelle gab es zustimmendes Raunen in der Menge. Mr Pantagus deutete auf den Sarg.

»Ich bin ein privilegierter Mann. Man hat mir die Betreuung dieses Sarges überantwortet, in dem das Skelett einer gewissen Madame Celestine de Bona ruht. Während ich die Zeremonie abhalten werde, die sie ins Leben zurückbringen soll, bitte ich nun um äußerste Ruhe.«

Juno, die, wie ich inzwischen wusste, die zweite Person war, löschte alle Kerzen an den Wänden. Damit bestand die einzige verbleibende Lichtquelle aus vier dicken Bienenwachskerzen, die auf hohen Eisenständern in den Ecken des Podiums brannten. Mr Pantagus entfernte den Sargdeckel und legte ihn zur Seite. Dann löste er etliche innere Verriegelungen und klappte die Seitenwände herunter, sodass sie flach auf dem Tisch lagen und der schauerliche Inhalt der Kiste zu sehen war.