Als er jäh die Augen aufriss, sah er schon ein zweites Gemüsestück auf sich zufliegen, und dieses Mal duckte er sich. Der arme Kerl, der hinter ihm stand, bekam es mitten ins Gesicht. Trotzdem sang Beag unbeirrt weiter, mutig oder treuherzig. Vielleicht war es beides.
»Gib endlich Ruhe!«, rief jemand, und dann wurde Beag wieder getroffen.
»Aber«, stotterte er empört, den Mund voll Tomatenbrei, »ich hab doch gerade erst angefangen!«
»Nein, hast du nicht!«, rief ein kleiner Junge von hinten. »Du bist fertig!« Und damit ließen er und seine Freunde einen Hagel matschiger Äpfel auf ihn niederprasseln.
Beag war wütend. Noch nie in seinem Leben war sein Bemühen auf derartige Feindseligkeit gestoßen. »Du Rotznase!«, rief er dem kleinen Jungen zu. Er sprang von seinem Podest, hob den erstbesten Gegenstand auf, der ihm in die Hand fiel, eine große faulige Kartoffel, und warf sie mit solcher Kraft und Zielgenauigkeit, dass sie den Jungen zu Boden riss.
»He! Das ist mein Sohn! Was fällt dir ein?«
Beim Anblick des Mannes stand Beag erst einmal wie angewurzelt; es war der größte Mann, den er je gesehen hatte. Dieser riesige Affe überragte die ganze Menge und bahnte sich nun einen Weg auf Beag zu, dem das Herz in die Hose rutschte.
Herr im Himmel!, dachte Beag, dessen Beine im Nu wieder beweglich wurden. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wie der Blitz. Als er zur Brücke kam, wurde er immer noch von dem Mann und einer kleinen johlenden Horde verfolgt. Er rannte den Kopfsteinweg entlang, der über den Fluss führte, und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um.
»Hierher«, zischte eine Stimme. »Schnell!«
Abrupt drehte sich Beag um und sah einen langen Finger, der ihm von der Ecke einer kleinen Seitengasse aus zuwinkte. Ohne weiter nachzudenken, stürzte er darauf zu.
»Rein da!«, sagte der große Mann, dem der Finger gehörte, und damit stieß er eine Tür in der Mauer auf und zog Beag mit sich hinein – gerade in dem Moment, als die Meute die Einmündung des Seitengässchens erreichte. Beag folgte seinem Retter eine kurze Treppe hinauf, auf der anderen Seite wieder hinunter und kam in einen überfüllten, von Rauch und Gelächter durchwaberten Raum mit niedriger Decke.
»Wo sind wir?«, fragte er seinen namenlosen Gefährten.
»Im Flinken Finger«, sagte der Mann. »Ich weiß nicht, wie Ihr darüber denkt, aber ich hätte nichts gegen einen Krug Bier einzuwenden.«
Minuten später hatten Beag und sein neuer Freund es sich in einer dunklen Ecke bequem gemacht und schlürften Bier aus einem großen Krug, den das Serviermädchen gebracht hatte. Gerade wollte Beag etwas sagen, als ein Tumult vom Eingang her sein Herz wieder rasen ließ. Es war der Affenmann.
»Ich suche einen Zwerg«, sagte er, und die ganze Schankstube verstummte. Eine energische Frau – die Respekt einflößende Betty Peggotty – stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an. Sie hatte einen exotischen Hut auf dem Kopf, der schon weit bessere Tage gesehen hatte.
»Hier ist kein Zwerg, Samuel!«, sagte sie entschieden. »Also trink entweder ein Bier oder verschwinde!«
»Pah!«, rief der Affe, doch da er schon vor eine solche Wahl gestellt wurde, entschied er sich ohne Frage für das Bier, und so kam es, dass er bald genauso ausgelassen war wie alle anderen.
Beag entspannte sich und wandte sich seinem Gefährten zu. »Darf ich fragen, wer Ihr seid?«
»Mein Name ist Aluph Buncombe.«
»Nun, Mr Buncombe, ich verdanke Euch mein Leben«, sagte Beag und schüttelte ihm dankbar die Hand.
»Keine Ursache«, sagte Aluph mit breitem Lächeln. »Bin immer gern bereit, einem Menschen aus der Patsche zu helfen. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, wie Ihr dazu kommt, einen Mann wie Samuel Lenacre gegen Euch aufzubringen.«
Beag erzählte die ganze unglückselige Geschichte und Aluph hörte voller Verständnis zu.
»Ihr sucht Arbeit, sagt Ihr. Welche Fähigkeiten habt Ihr denn? Schlagt Ihr Purzelbäume?«
Beag lachte trocken und schüttelte den Kopf. »Natürlich kann ich das. Gibt es einen Zwerg, der das nicht könnte? Aber ich denke, Ihr bevorzugt vielleicht eher meine anderen Talente.«
Aluph hob eine Braue. »Und die wären?«
»Ich bin Dichter und Liedermacher.«
Aluph runzelte besorgt die Stirn. »Ich bin überzeugt, dass Ihr so etwas könnt, doch wenn Ihr in einer Stadt wie dieser genug zum Leben verdienen wollt, müsst Ihr Euer Publikum kennen. Seht Euch um, mein Freund, und sagt mir: Sind das Leute, die Geschichten oder Verse hören wollen?«
Als Beag prüfend seinen Blick durch den Raum wandern ließ, spürte er, wie sich Verzweiflung in seinem Herzen breitmachte. »Aber die Dichtkunst ist meine Leidenschaft«, sagte er. »Ich bin schon auf dem Cathaoir Feasa gewesen!«
»Auf dem was?«
Doch Aluph gab Beag keine Möglichkeit zu antworten, sondern schüttelte nur den Kopf und legte ihm seine makellos gepflegte Hand auf die Schulter. »Beag, Beag«, sagte er sanft, »schaut sie Euch doch an. Könnt Ihr denn gar nichts anderes?«
Schließlich, als Beag sich noch einmal in der Wirtschaft umgesehen hatte, verstand er. »Ich kann gut Kartoffeln werfen«, sagte er trübsinnig.
»Aha!« Aluphs Gesicht hellte sich auf. »Ein Kartoffeln werfender Zwerg. Damit lässt sich wohl eher etwas anfangen.«
Kapitel 16
Artikel aus dem
Daily Chronicle
von Urbs Umida
Gruselige Vorgänge im Flinken Finger
Von Deodonatus Snoad
Verehrte Leser,
Es gibt wohl kaum einen Bürger dieser Stadt, der noch nichts von dem Knochenmagier gesehen oder wenigstens gehört hätte. Es überrascht mich nicht, dass es wiederum Mrs Peggotty vom Flinken Finger ist, der wir die Begegnung mit derart faszinierenden Persönlichkeiten zu verdanken haben. Im oberen Raum der Schankwirtschaft treten zurzeit auf: Mr Benedict Pantagus, wie er sich nennt, und seine Assistentin, eine Miss Juno Pantagus – ich glaube, es handelt sich um seine Nichte. Auch sei nicht vergessen, dass in Mrs Peggottys Kellerraum das Gefräßige Biest zu besichtigen ist. So viele Attraktionen auf einmal! Wir stehen wirklich tief in ihrer Schuld.
Leichenmagie, die Kunst der Totenerweckung, hat eine lange Geschichte. Das lässt sich von Kartoffelwerfern nicht unbedingt behaupten – von dieser Spezies habe ich gestern einen auf der Brücke gesehen. Ich fürchte, ein solch gefährlicher Sport kann nur mit ernsthaften Verletzungen enden. Doch Knollengewächse beiseite – ich möchte denjenigen meiner Leser, denen die Praktik der Totenerweckung nichts sagt, gern die wenigen mir zur Verfügung stehenden Kenntnisse auf diesem Gebiet weitergeben.
Von allen Rätseln, die uns das Leben aufgibt, ist der Tod wohl das größte. In früheren Jahrhunderten glaubten die Menschen fest an die Macht des Todes. War ein Mensch von der diesseitigen in die jenseitige Welt hinübergegangen, sprach man ihm große Kräfte zu. Doch nur ein Knochenmagier konnte mit solchen Kräften in Verbindung treten, und zu diesem Zweck musste er die Toten ins Leben zurückholen. Nach ihrer Wiederbelebung wurden diese weisen Seelen dann angerufen, um den Lebenden Ratschläge zu geben und die Zukunft vorauszusagen.
Ich habe Benedict Pantagus und die merkwürdige Madame de Bona gesehen, und sie bot, ehrlich gesagt, keinen schönen Anblick. Hoffentlich war sie zu Lebzeiten etwas attraktiver. Abgesehen von ihrem Äußeren jedoch lässt sich nicht bestreiten, dass sie ihren Verpflichtungen nachkam und die verschiedenen Fragen zur augenscheinlichen Zufriedenheit der Betroffenen beantwortete. Mr Pantagus verdient Anerkennung für seinen Einfallsreichtum und seine ausgezeichnete Darbietung. Zweifellos ist sie den gewöhnlichen Betrügereien, die in dieser Stadt an der Tagesordnung sind, um einiges überlegen. Zu der Frage, ob Madame de Bona wirklich ins Leben zurückkehrte oder nicht, kann ich mit Gewissheit nur sagen, dass ich mich gründlich nach Schnüren umgesehen habe, aber nichts dergleichen finden konnte.