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Pin wusste nicht genau, was ihn aufgeweckt hatte. Vielleicht ist ein Vogel auf dem Dach gelandet, dachte er. Doch was es auch sein mochte, es hatte ihm einen solchen Schreck eingejagt, dass er sich mucksmäuschenstill verhielt. Nur sein Herz schlug laut wie der Hammer eines Steineklopfers. Um ihn herum war es nahezu stockdunkel, bis auf die schwache Glut aus dem Kamin. Wo war er?

Mit einem Gefühl der Erleichterung fiel ihm Mrs Hoadswoods Pension ein. Er rollte sich zusammen, schloss die Augen und zog sich die Decke bis über die Ohren. Wenn er bloß in seine Träume zurücksinken könnte! Stattdessen begann seine Nase zu zucken und er roch etwas; einen eigenartigen, betörenden Duft, der durch die Ritzen zwischen den Dielen in sein Zimmer kroch.

Er stützte sich auf den Ellbogen und schnupperte. Leise stieg er aus dem Bett, entzündete die Kerze an der Glut und folgte seiner Nase hinaus auf den Gang und die Treppe hinunter. Im unteren Flur wurde sofort klar, woher der Geruch kam – gleich unter der gegenüberliegenden Tür quoll schwacher Rauch hervor. Pin drückte die Nase gegen das Holz der Tür. Es war ein unwiderstehlicher Duft, weshalb er, ohne groß zu überlegen, nach der Klinke griff. Ehe er sie aber niederdrücken konnte, öffnete sich die Tür, und er sah sich plötzlich einem Geist mit kalkweißem Gesicht gegenüber.

»Teufel auch!« Er wich zurück, doch dann erkannte er die Gestalt. »Fast hätte mich der Schlag getroffen! Ich habe dich für einen Schatten aus der Unterwelt gehalten.«

Juno lachte, zog ihn ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihm. »Ich könnte mir denken, dass du bei deiner Arbeit schon mehr als genug Schatten getroffen hast.«

Pin wurde rot. Er sah sich im Zimmer um. Es war spärlich eingerichtet, dem seinen sehr ähnlich, nur größer. »Tut mir leid. Ich bin nur dem Geruch nachgegangen …«

»Ah, mein kleines Geheimnis!«

Juno trat ans Feuer, nahm den Tiegel weg und schloss ihn mit einem Deckel. Sie kniete sich auf den Boden und hielt ihre Hände über die Flammen.

»Komm her.«

Pin hockte sich neben sie. »Was verbrennst du da?«

»Kräuter«, erwiderte sie. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen glänzten, aber Pin war sich nicht sicher, ob das von der Hitze kam. Mit einem Griff unter das Bett zog sie den Koffer hervor. »Ich habe Kräuter für jeden Anlass«, sagte sie, während sie den Koffer aufklappte und Pin die Töpfchen und Päckchen darin zeigte. Sie deutete auf jedes einzelne.

»Heliotrop für Glück, Kümmelsamen für Gesundheit, Kreuzkümmel für Ruhe. Und hier Zimt und Anis …«

»Um jemanden herbeizurufen«, sagte Pin mit einem Lächeln, das Juno erwiderte.

»Und heute Abend«, fuhr sie fort, »verbrenne ich Jasmin und Lavendel mit einem Tropfen Bergamottöl. Das soll mir beim Einschlafen helfen.«

»Bestimmt hast du Gewissensbisse gehabt«, sagte Pin lachend, »wegen der Duftattacke auf mich.«

Schuldbewusst sah Juno ihn an. »Du meinst die Nacht mit Sybil und Mr Belding? Es tut mir leid, aber ich musste dir das Schlafmittel verpassen; wir durften ja nicht riskieren, dass du uns störst.«

»Es war das Ungewöhnlichste, was ich je erlebt habe«, sagte Pin. »Eine Leiche, die wieder lebendig gemacht wird.«

»Du warst also wach?«

»Nur gerade so eben. Ich bin nicht sicher, ob es vielleicht doch nur ein Traum war.«

»Glaubst du denn nicht, was du gesehen hast?«

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Pin. »Aber ich weiß auch, dass es nicht wirklich so gewesen sein kann.«

»Und Madame de Bona?«

Er lachte. »Ein guter Trick.«

»Aber du hast ihr doch eine Frage gestellt. Warst du mit ihrer Antwort nicht zufrieden?«

»Wenn es nur wahr wäre! Aber ich denke, mein Vater hat die Stadt längst verlassen. Ich suche ihn schon seit Wochen.«

»Madame de Bona lügt nicht.«

Pin sah sie scharf an. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? Er kam nicht dahinter. »Ich hätte besser fragen sollen, wer meinen Onkel getötet hat. Das hätte viele Probleme gelöst. Ich möchte wissen, was Madame de Bona darauf geantwortet hätte.«

Juno grinste. »Was immer sie gesagt hätte, du wärst mit ihrer Antwort gewiss zufrieden gewesen.« Sie gähnte herzhaft und streckte sich. »Es wird dir hier gefallen«, sagte sie. »Du bist in guter Gesellschaft. Und wenn ich gehe, kannst du mein Zimmer haben. Es ist größer.«

»Du willst weggehen?«

»Erst in ein, zwei Wochen. Benedict bleibt hier, darauf besteht Mrs Hoadswood, aber ich will weg aus dieser Stadt.«

»Ich auch«, sagte Pin heftig. »Mich hält hier nichts mehr.«

»Dasselbe kann ich auch von mir sagen.« Wieder gähnte Juno.

Da stand Pin auf und ging zur Tür. Während er zusah, wie Juno die Kräuter wegräumte, schnupperte er noch einmal vorsichtig. Er wunderte sich über sich selbst, weil er enttäuscht war, dass sie nicht länger hier bleiben würde. Sie bemerkte, wie er sie beobachtete, und lächelte.

»Wir haben noch etwas gemeinsam, weißt du«, sagte sie.

»Hm?«

»Wir sind beide auf der Suche nach jemandem.«

»Also, ich suche meinen Vater«, sagte Pin. »Und du?«

»Den Mann, der meinen Vater umgebracht hat.«

Kapitel 20

Pins Tagebuch

Jetzt ist schon eine Woche vergangen, seit ich Beag und Aluph begegnet bin – Mr Buncombe erlaubt mir bereits, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen –, und ich habe wirklich in meinem ganzen Leben noch nie sieben so wunderbare Nächte verbracht wie hier. An ein ähnliches Gefühl von Wohlbehagen und Zufriedenheit kann ich mich nicht erinnern, seit meine Mutter gestorben ist. Mit Vater ging es danach nur noch bergab, er ist nie mehr der Alte gewesen. Was Onkel Fabian angeht, so wünschte ich, ich wüsste, was in dieser schrecklichen Nacht vorgefallen ist. Die helle Wut überkommt mich, wenn ich an ihn denke! Könnte es sein, dass auch Vater solchen Zorn in sich hatte, dass er schließlich die Beherrschung verlor und ihn bei seiner dürren Kehle gepackt hat?

Aber es ist nicht gut, immer wieder über diese Dinge nachzugrübeln. Im Augenblick denke ich ohnehin lieber an meine neuen Freunde, denn schon der Empfang war so gewesen, dass ich sie tatsächlich als Freunde betrachte. Juno ist eine interessante Mitbewohnerin und wir sitzen oft bis in die Nacht hinein zusammen und reden über Gott und die Welt. Sie weiß sehr viel über die Natur und deren Pflanzen. Ich habe schon eine Vorliebe für ihre Aromamischungen entwickelt – sie verhelfen wirklich zu ruhigem Schlaf – und natürlich auch für Junos persönlichen Duft, Wacholder. Sie ist von Natur aus wohl eher ernst; sie ist schlagfertig und besitzt einen scharfen Verstand. Ich glaube, wir verstehen uns jeden Tag besser.

Mr Pantagus bleibt meistens für sich; er scheint ziemlich gebrechlich zu sein. Dafür ist Beag ein ganz außergewöhnlicher Bursche und sein Talent als Unterhalter wirklich nicht schlecht. Nach dem Abendessen in Mrs Hoadswoods Küche – ihre vielen Pasteten sind immer köstlich – wird Beag meistens gebeten zu singen oder zu erzählen. Gestern Abend unterhielt er uns mit einer eigenwilligen Version von »Old Mackey Donnelly und sein Esel«. Er hat die Strophen zur Melodie von »Der wilde Wandersmann von Bally Hooley« gesungen, und wir stimmten jedes Mal in den Refrain ein. Eine Strophe war ungefähr so:

Old Mackey Donnelly

Führt sein’ Esel auf die Marsch.

Aber der Esel bockt

Und beißt ihn in den …

Dann kommt der Refrain:

Im Frühling blühn Rosen,

Im Winter fällt Schnee,

Zur Ernte komm ich wieder

Und trink mit dir Tee.

Es sind furchtbar viele Strophen, bestimmt denkt sich Beag beim Singen immer wieder neue aus. Ich finde es aber eine unterhaltsame Art, die Zeit zu verbringen. Jedenfalls lenkt sie von den Sorgen ab.