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Aluph Buncombe bewundere ich mehr und mehr. Ich beobachte ihn gern bei Tisch, denn ganz im Gegensatz zu den anderen pflegt er beim Essen Umgangsformen, die mich in vielem an meine Mutter erinnern. Sie hat stets streng auf meine Manieren geachtet, und nun führt mir Aluphs Verhalten immer wieder vor Augen, was mir früher selbstverständlich war. Er hat nicht nur eine gepflegte Ausdrucksweise, er kleidet sich auch weitaus besser als wir anderen. Wie es zurzeit jenseits des Flusses Mode ist, trägt er ein Halstuch aus Spitzenrüsche, an dem eine Brosche mit einem Edelstein steckt – jeden Tag einer von anderer Farbe. Heute war es ein Rubin. Ob er echt ist, kann ich nicht sagen, in jedem Fall aber ist er sehr hübsch anzusehen. Auch an den Ärmelaufschlägen sind Spitzenrüschen und er trägt eine gut sitzende Weste mit Goldstickerei. Sein Monokel erscheint mir allerdings eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn es hängt meist nutzlos herunter, statt vor seinem Auge zu klemmen. Aluph und Beag sind trotz ihrer scheinbaren Unterschiede die dicksten Freunde. Aufgrund ihrer tiefen Überzeugung, dass jeder von ihnen zu Größerem bestimmt sei, haben sie großen Respekt füreinander.

Heute Abend wurde nicht gesungen, dafür kam es beim Essen zu einer abwechslungsreichen und höchst interessanten Unterhaltung. Als Aluph merkte, dass ich seine Kleidung bewunderte, sagte er mir das und lächelte dabei sein gewinnendes, sorgfältig eingeübtes Lächeln. Und »eingeübt« meine ich wörtlich, denn ich sehe ihn täglich vor dem Spiegel in der Diele stehen.

»Aluph ist eben nicht wie wir andern«, erklärte Mrs Hoadswood. »Manchmal denke ich, es ist eine Ehre, dass wir überhaupt mit ihm an einem Tisch sitzen dürfen.«

»Meine liebe Mrs Hoadswood, Ihr macht ja die reizendsten Komplimente«, sagte Aluph und erhellte mit seinem Lächeln den ganzen Raum. »Weißt du«, fuhr er zu mir gewandt fort, »in meinem Gewerbe ist es wichtig, dass ich mich so kleide.«

»Was ist denn Euer Gewerbe, Aluph?«, fragte ich ehrlich interessiert, denn ich wusste bisher nur, dass er keine festen Arbeitszeiten hat.

»Nun, mein lieber Junge«, sagte er, vor Selbstgefälligkeit fast überfließend, »das ist nicht so ganz einfach zu erklären.«

»Er liest Beulen«, sagte Beag kurz und bündig.

Aluph schüttelte den Kopf. »Das, Beag, trifft es ganz und gar nicht. Von einem Mann wie dir, der sich für so belesen hält, hätte ich mehr erwartet.«

»Beulen?« Ich war neugierig geworden.

»Schädelbeulen – ich meine, Schädelerhöhungen«, korrigierte sich Aluph. »Ich lese aus den Erhöhungen und Vertiefungen am Schädel der Menschen.«

Ich sah keinen großen Unterschied zwischen Beulen und Erhöhungen, doch aus Höflichkeit verkniff ich mir eine Bemerkung.

»Und wozu?«, fragte ich.

Aluph kam um den Tisch und blieb hinter mir stehen. »Dafür gibt es viele Gründe.«

»Hauptsächlich Geldgründe«, bemerkte Mrs Hoadswood lachend.

»Einem Dummen lässt sich das Geld leicht aus der Nase ziehen«, nuschelte Beag.

Scheinbar ungerührt von all den Sticheleien musterte Aluph kritisch meinen Kopf. »Ich kann nach der individuellen Form und Beschaffenheit eines Schädels auf den Charakter eines Menschen schließen«, erklärte er stolz. »Es ist eine philosophische und naturwissenschaftliche Methode, die sogenannte Kraniologie. Außerdem geht es um ungenutztes Potenziaclass="underline" Du weißt, was du im gegenwärtigen Moment bist, aber weißt du, was aus dir werden könnte?«

»Einmal weiche Birne, immer weiche Birne«, sagte Beag.

Ohne jemanden direkt anzusprechen, ergriff nun Mr Pantagus am anderen Tischende das Wort.

»Ich verstehe zwar nur wenig von der Wissenschaft der Schädelbeulen«, sagte er behutsam, »weil sich meine Sachkenntnis auf ganz andere Dinge konzentriert, aber ich muss doch Mr Buncombes unerschütterlichen Einsatz auf diesem Gebiet bewundern. Was ich von der Sache halte, sei dahingestellt, doch es gibt in dieser Stadt genügend Menschen, die sich nur zu bereitwillig etwas aus ihrem Schädelbau ablesen lassen. Ich wünsche ihm Glück und hoffe, den Leuten gefällt’s, was sie zu hören bekommen.«

»Ich kann Euch versichern, mein lieber Benedict«, sagte Aluph, »dass meine Kunden stets zufrieden sind.«

»Wie meine auch«, erwiderte Mr Pantagus, und ich sah ein kleines Zwinkern in seinem Blick.

Dann wandte sich Aluph wieder an mich. Er rümpfte ein wenig die Nase, als er meine ungekämmten Haare sah – inzwischen weiß ich, dass er an sehr viel besser frisierte Köpfe gewöhnt ist. Trotzdem ließ er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er grub mit weit gespreizten Fingern die Hände in meine verfilzte Mähne und tastete mit den Fingerspitzen langsam über meine Stirn, über die Schädeldecke, die Schläfen und schließlich bis zum Nacken hinunter. Außer einem gelegentlichen »Ah«, »Ho-ho« oder »Hm« sagte er nichts.

»Was habt Ihr also herausgefunden?«, fragte ich gespannt.

Sorgfältig wischte sich Aluph die Hände an einem blassgrünen spitzenumsäumten Taschentuch ab, das er immer in der Westentasche hatte. »Nun«, verkündete er endlich, »deine Kopfform fällt unter den Begriff ›Dolichozephalie‹. Das heißt, er ist deutlich länger als breit.«

Ich überlegte, ob das gut oder schlecht sei.

»Daraus kann ich nun schließen«, erklärte Aluph weiter, während er an meine linke Schläfe klopfte, »dass du ein hochintelligenter Junge bist und dass du Sinn für die schönen Dinge des Lebens hast.«

»Was noch?«, fragte ich.

Aluph lächelte wohlwollend. »Mehr kann ich ohne Bezahlung leider nicht sagen.« Er sah mich hoffnungsvoll an und ich spürte, dass er ein paar Münzen erwartete, aber lange hielt seine Hoffnung nicht vor.

»Tiefschürfende Erkenntnisse, in der Tat«, bemerkte Beag grinsend.

»Mr Hickory, du als Kartoffelweitwerfer«, sagte Aluph mit lobenswerter Zurückhaltung, wobei er allerdings »Kartoffel« besonders betonte, »dürftest wohl kaum etwas Wesentliches zu diesem Gespräch beizutragen haben.«

Beag wiederum wollte sein Talent als Kartoffelweitwerfer nicht in schlechtes Licht gerückt sehen. Er stand auf und hob die geballten Fäuste. »Buncombe«, knurrte er, »wenn du nicht den Mund hältst, verschaffe ich dir eine Beule, die du noch in einem halben Jahr spüren wirst!« Er zielte mit der Faust über den Tisch und Aluph beugte sich hastig zurück.

»Aber bitte, Gentlemen«, unterbrach Mrs Hoadswood scharf und erhob sich. In ihren Augen loderte es. Ächzend ließ sich Beag wieder auf die Bank nieder und Aluph zupfte an seinen Ärmelaufschlägen. Dann stellte Mr Pantagus die Frage, die ihnen allen schon seit Tagen auf der Zunge brannte. Ich hatte gewusst, dass sie irgendwann kommen würde.

»Also, Pin, was weißt du über den Mord an Fabian Merdegrave?«

Und da erzählte ich es ihnen.

Kapitel 21

Eine Geschichte und ein Handel

Der Grund für den Mord an Onkel Fabian liegt in der Vergangenheit. Damals, als meine Mutter erklärte, sie wolle einen Mann aus der Südstadt heiraten, gab es schrecklichen Ärger und es kam zum Bruch in der Familie Merdegrave. Großvater sagte, er wolle sie nie mehr sehen, und enterbte sie. Großmutter hatte im Grunde genommen nichts gegen die Heirat einzuwenden, wollte sich aber nicht dem Willen ihres Mannes widersetzen. In den Jahren, als Großmutter noch lebte, hat Mutter sie heimlich besucht und mich oft mitgenommen. Großmutter hat uns Geld und Kleinigkeiten geschenkt und einzelne Stücke von Mutters Schmuck aus dem Haus geschmuggelt. Immer hat meine Mutter gehofft, ihr Vater würde eines Tages nachgeben und der Zwist wäre begraben.

Trotz alledem waren wir glücklich. Vater war ein geschickter Tischler und brachte mir sein Handwerk bei; Mutter kochte und verkaufte ihre Speisen auf dem Markt. Abends hat sie mich lesen und schreiben gelehrt, weil ich es einmal zu etwas bringen sollte im Leben. Meine Bildung und die Liebe zum Lernen unterschieden mich von den anderen Kindern auf der Straße. Aber wenn ich mich deshalb beschwerte, sagte meine Mutter, ich hätte die Wahclass="underline" Ich könne entweder meinen eigenen Weg gehen oder mit den Wölfen heulen. Ihr größter Wunsch war es, dass ich einmal etwas aus mir machen würde, und ich weiß, sie hätte es gern gesehen, wenn ich die Stadt verließe. Manchmal erzählte sie mir von ihrer Kindheit auf der anderen Flussseite: von dem schönen Haus, in dem sie aufgewachsen war und in dem es so viele Zimmer gab, dass sie sie nicht zählen konnte, von den Dienstboten, die für jede Bequemlichkeit sorgten, und von ihren herrlichen Spielsachen. Ich wunderte mich, dass sie dieses Paradies verlassen hatte, aber sie sagte immer, Leben bedeute mehr als nur Besitztümer anhäufen. Und die kostbarsten Dinge ließen sich eben nicht in der Hand halten. Damals verstand ich das nicht, aber ich glaube, allmählich komme ich dahinter, was sie gemeint hat.