»Eins ist mir noch schleierhaft«, sagte Pin. »Diese Totenerweckungen von Privatpersonen wie Sybil. Ich meine, ein Skelett in einer Schau ist das eine, aber echte Leichen …«
»Du hast Mr Belding gesehen«, sagte Juno. »Er und Sybil hatten einen schlimmen Streit gehabt. Er hat ihr vorgeworfen, sie liebe ihn nicht, und Minuten später lag sie von einem Pferdefuhrwerk überfahren auf der Straße. Er wünschte sich weiter nichts als die Möglichkeit, sich anständig von ihr zu verabschieden. Und diese Möglichkeit haben wir ihm verschafft.«
»Zumindest denkt er, ihr hättet sie ihm verschafft«, grübelte Pin. »Aber ich werde die Wahrheit herausfinden.«
Juno betrachtete Pin mit spöttischem Lächeln. »Du glaubst wirklich, dass du das kannst, wie?«
Er nickte. »Jedenfalls weiß ich, dass die ganze Geschichte nicht möglich sein kann. Wenn man tot ist, ist man tot, so wie ich die Welt verstehe.«
»Du solltest ein bisschen mehr Glauben in dir haben. Manchmal ist es nämlich ganz gut, an Magie zu glauben.«
»In dieser Stadt gibt es keine Magie«, sagte Pin.
Kapitel 22
Aluph Buncombe
Mrs Cynthia Ecclestope saß in ihrem gepolsterten Sessel mit der hohen Rückenlehne und blickte immer wieder nervös zur Uhr auf dem Kaminsims. Die goldenen Zeiger standen auf halb elf. Ihre Freundinnen waren versorgt mit Tee (ihrer ganz persönlichen Mischung) und Kuchen (am Vormittag frisch hergestellt aus den besten Zutaten, samt – unbeabsichtigt – Schweißtropfen von der Stirn des Kochs und – beabsichtigt – Spucke des Butlers). Sie saßen auf verschiedenen Stühlen und Sesseln um die Gastgeberin herum, jede mit bestmöglicher Sicht auf Cynthia. Hinter vorgehaltenen Händen plauderten sie angeregt miteinander. Gesprächsthemen waren der Leichenmagier, das Gefräßige Biest und der Silberapfel-Mörder. Die Schwierigkeit dabei: Wie sollte man einen Besuch bei den Ersteren beiden bewerkstelligen, ohne dem Dritten in die Hände zu fallen?
Um Punkt elf Uhr wurde die Tür geöffnet und der Butler trat in Begleitung eines anderen Mannes ein. Er hüstelte leise und die Damen sahen auf.
»Mr Aluph Buncombe, Eure Ladyschaft«, kündigte der Butler an, bevor er sich mit dem gewissen unterschwellig höhnischen Grinsen zurückzog, das er für so feine Gesellschaften bereithielt. Aluph blieb einen Augenblick ruhig stehen und bot den Damen somit Gelegenheit, sein Äußeres würdigen zu können: sein dichtes, dunkel glänzendes Haar und sein gewinnendes Lächeln. Er hörte, wie sie kurz nach Luft schnappten, lächelte gleich noch eine Spur strahlender und zeigte dabei seine schönen Zähne, die er kurz zuvor noch mit der Spitze eines Zweiges poliert hatte. Zum Glück hatte er in der Eingangshalle in einen Spiegel geschaut und konnte vor seinem Eintritt in den Salon noch schnell das Petersilienblättchen entfernen, das zwischen seinen Zähnen hängen geblieben war – Petersilie kauen sorgte für frischen Atem. Als Aluph den Moment für gekommen hielt, schritt er mit beneidenswertem Selbstbewusstsein auf Mrs Ecclestope zu (für die Ausstrahlung eines solchen Selbstbewusstseins hatte er stundenlang in seinem Zimmer geübt) und war mit vier Schritten bei ihr, obwohl der Raum gut sechs Meter maß.
»Ah, Mrs Ecclestope«, sagte er, »welch unvergleichliches Vergnügen, in Euer liebreizendes Angesicht zu blicken.«
Er beugte sich vor, nahm ihre Hand und küsste sie – vielleicht eine Spur zu lange, wenn man ihren Stand als verheiratete Frau bedachte, aber dieses Auftreten gehörte zu seinem unnachahmlichen Charme. Mrs Ecclestope kicherte, wurde rot und wedelte heftig mit ihrem Fächer, die Hand entzog sie ihm aber erst nach mehreren Sekunden.
»Und wer sind all die bezaubernden Damen hier?«, fragte Aluph und lächelte auf eine Art, die jeder Einzelnen das Gefühl gab, er habe nur Augen für sie allein.
»Meine geschätzten Freundinnen«, sagte Cynthia und stellte sie ihm eine nach der anderen vor. Und einer nach der anderen küsste Aluph die weiche weiße Hand und sah ihre Wangen erröten.
»Meine Damen«, sagte er, als sich alle wieder auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, »wie Ihr wisst, bin ich Aluph Buncombe, ein Kraniologe. Mit diesen Fingern« – er hielt seine schlanken Hände hoch und spreizte die Finger – »erspüre ich die kleinsten Unebenmäßigkeiten auf einem menschlichen Schädel. Diese Täler und Gräben sind komplizierte und ausführliche Anhaltspunkte für sämtliche Aspekte Eurer Persönlichkeit, sogar für solche, die Ihr lieber geheim halten würdet. Korrekt gedeutet, enthüllen sie einem Menschen Dinge, von denen er nicht einmal selbst weiß und die auf diese Weise sogar die Zukunft aufzeigen können.«
Bei dem bloßen Gedanken blieb den Damen vor Bewunderung und Ehrfurcht die Luft weg. Verstohlen machte sich jede daran, ihren Kopf abzutasten, doch so, dass es aussah, als wollte sie Locken oder Haarnadeln in Ordnung bringen. Zweifellos fragten sie sich, wie tief genau Aluph forschen würde, denn jede wurde sich plötzlich ihrer kleinen – und nicht so kleinen – Geheimnisse bewusst.
»Nun denn, Mrs Ecclestope«, sagte Aluph, und in seiner Miene drückte sich Ernst und aufrichtige Anteilnahme aus. »Seid Ihr also, da ich Euch vor den möglichen Konsequenzen gewarnt habe, immer noch bereit, Euch auf meine Untersuchung einzulassen?«
Mrs Ecclestope lachte nervös und sah ihre Freundinnen an. Die lächelten und nickten lebhaft mit den Köpfen. Von solch offener Ermutigung bestärkt, beugte sich die Dame des Hauses ein wenig vor.
»Mr Buncombe«, sagte sie, wobei sie leicht seinen Arm berührte, »da wir nun gegen Ende des Vormittags schon so gut miteinander bekannt geworden sind, darf ich Euch wohl bitten, mich Cynthia zu nennen. Und ich bin bereit, ja.«
»Ausgezeichnet, Mrs … äh, Cynthia«, sagte Aluph. »Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Bitte entspannt Euch und macht es Euch bequem.«
Aluph trat an den Tisch, auf den er seine Arzttasche gestellt hatte, und öffnete sie. Er griff hinein und zog einen großen Tastzirkel aus Messing heraus. Er war spiegelblank poliert, funkelte im Licht und sah ziemlich bedrohlich aus. Ein ängstliches »Oh!« klang durch das Zimmer.
»Bitte, meine Damen«, beruhigte er sie mit erhobener Hand. »Keine Angst! Wie bei so vielen Dingen im Leben gilt auch für dieses Instrument: Hunde, die bellen, beißen nicht.«
Auf den Gesichtern der Damen zeichnete sich Ratlosigkeit über diesen Vergleich ab, und Aluph erklärte ihn eilig.
»Obwohl es einigermaßen brutal aussieht, ist es weiter nichts als ein einfaches Messgerät, das mir als Hilfsmittel bei meiner Schädelanalyse dient.«
Er stellte sich hinter Cynthia, die kerzengerade und mit fest geschlossenen Augen im Sessel saß. Mit den Händen umklammerte sie so fest die Seitenlehnen, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Aluph platzierte nun den Zirkel vorsichtig auf ihrem Kopf, stellte immer wieder neue Abstände ein und brachte die nächsten Minuten damit zu, den Kopf aus vielen unterschiedlichen Winkeln zu vermessen: von hinten nach vorn, vom Kinn bis zum Scheitel, um die Seiten herum, von Ohr zu Ohr, vom Nacken bis zum Scheitel – und, um Eindruck zu machen, noch einiges mehr. Aluph gehörte zu den entschiedenen Befürwortern der Theorie, dass man den Leuten geben sollte, wonach sie verlangten. Er schrieb jede seiner Messungen sorgfältig in sein Notizbuch und begleitete die eine oder andere Eintragung mit gemurmelten Bemerkungen wie »Aha!« oder »Ohoo!«, auch »Hmm« oder »Aaah, ja«, bis die ängstlich angespannte Verfassung seiner Zuhörerinnen den Höhepunkt erreicht hatte.
Nachdem alle Messungen abgeschlossen waren, verstaute Aluph den Tastzirkel wieder in seiner Tasche und die Damen dankten ihm mit freundlichem Applaus.
»War das alles?«, fragte Cynthia aufgeregt.
»Oh nein«, sagte Aluph lächelnd. »Wir haben ja erst begonnen.« Und er streckte die Hände aus, ließ die Knöchel knacken und legte die gespreizten Finger um Cynthias Schädel. Staunend beobachteten die Damen, wie er seine gepflegten Finger langsam über ihren Kopf bewegte. Dabei stand er sehr aufrecht mit leicht nach hinten geneigtem Kopf und geschlossenen Augen. Seine Lippen bewegten sich wortlos. Er arbeitete sehr gründlich, betastete jeden Zentimeter ihres parfümierten Kopfs und brachte es dennoch fertig, ihre beängstigend hoch aufgetürmte Frisur nicht durcheinanderzubringen. Schließlich nahm Aluph die Hände weg, trat zurück und lockerte seine Schultern. Dann kam er um den Sessel herum und wandte sich an sein Publikum.