»Die Untersuchung ist abgeschlossen«, verkündete er, und alle Damen klatschten begeistert und warteten gespannt auf seine Ergebnisse. Aluph rollte einen großen Bogen Papier auseinander und befestigte ihn an der Wand hinter sich. Auf der Schautafel waren vier Ansichten eines haarlosen menschlichen Kopfes abgebildet, die linke und rechte Seite, der Hinterkopf und die Schädeldecke. Die einzelnen Ansichten waren in mehrere unregelmäßige Felder unterteilt und diese wiederum mit je einem Großbuchstaben gekennzeichnet. Aluph nahm einen kurzen, mit einem doppelten Scharnier versehenen Zeigestab aus seiner Tasche. Mit einer eleganten Bewegung des Handgelenks schnippte er ihn auseinander und die Halterung rastete ein. Er klopfte dreimal mit dem Stab auf das Schaubild.
»Das hier«, sagte er feierlich, »ist eine Karte der wichtigen Regionen des menschlichen Schädels. Jede Region ist mit einem Buchstaben versehen und jeder Buchstabe steht für ein bestimmtes Merkmal des menschlichen Charakters. Anhand der Messungen, die ich durchgeführt habe, sowie des Betastens jedes einzelnen Areals bin ich zu einer Reihe ganz interessanter Schlussfolgerungen gelangt.«
Bis zu diesem Moment hatte er alle Damen gleichermaßen angesprochen. Nun wandte er sich an Cynthia und sah ihr in die Augen.
»Cynthia«, sagte er, »es war mir eine Ehre, Eure Schädeltopografie zu ertasten. Wäre ich Euer Ehegatte, wäre ich ein sehr stolzer Mann, denn er hat eine Frau von unbegrenzten Fähigkeiten geheiratet.«
»Ooh, Mr Buncombe«, hauchte Cynthia, die kaum Worte fand.
»Diese Erhöhung hier«, fuhr Aluph fort und zeigte auf den oberen Teil des Hinterkopfs auf der Schautafel, der mit einem T gekennzeichnet war, »ist bei Euch besonders ausgeprägt, genau wie die Stellen hier und hier, P und R.« Der Stab tippte energisch auf das Schaubild, sprang von einer Kopfansicht zur nächsten und von einem Buchstaben zum anderen. Cynthia versuchte, dem Stab zu folgen; sie legte die Hand auf ihren Kopf und tastete langsam ihren Schädel ab. Dabei gelang es ihr irgendwann schließlich doch noch, ihre Frisur teilweise zum Einsturz zu bringen. Überrascht sah sie Aluph an.
»Ihr habt ganz recht, Mr Buncombe, in der Region mit dem T ist bei mir eindeutig etwas vorhanden. Wie merkwürdig, dass ich das noch nicht gespürt habe.«
»Ihr habt nie danach getastet«, sagte Aluph schlicht.
»Aber was bedeutet das nun?«, kam eine Stimme aus der Menge, deren Besitzerin sich nicht länger beherrschen konnte.
»Ja, was bedeutet das alles?« Der Ruf wurde von den anderen Damen aufgenommen.
Aluph gestattete sich ein kleines Lächeln angesichts der Begeisterung seines Publikums. Er ließ sie ganz gern ein wenig im Ungewissen.
»Nun, die Region I gibt Aufschluss über den Verstand, und Ihr dürft versichert sein, Cynthia, dass Ihr Euch als eine geistreiche, humorvolle Dame mit dem Talent zu schlagfertigen Antworten betrachten könnt.«
»Es ist genau, wie Ihr sagt!«, staunte Mrs Cynthia. »Wie oft sagt mein Mann, der gute Arthur, dass ich ihm ein Quell großer Erheiterung bin. Und was ist mit den Regionen P und R?«
»Ah ja«, fuhr Aluph fort, der inzwischen ganz in seinem Element war. »P weist darauf hin, dass Ihr eine aufrichtige Frau seid, achtbar und mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Ich vermute, dass Ihr äußerst verständnisvoll seid, wenn es um die Rechte anderer geht.«
Ungläubig schüttelte Cynthia den Kopf. »Mr Buncombe, Ihr verblüfft mich! Habe ich nicht erst gestern diesen Bettler weggeschickt? Er war der reinste Schandfleck in unserer Straße. Die Nachbarn waren mir so dankbar!«
»Und R verweist auf Wohlwollen, was auch Geld und Großzügigkeit einschließt. Ihr seid zweifellos eine ausgesprochen großzügige Frau, fast bis zur Schwäche, wenn Ihr mir meine Ausdrucksweise nicht übel nehmt. Schließlich ist es die Pflicht der Hausfrau, sparsam zu sein. Doch hier kommt nun T ins Spiel und die besondere Ausprägung dieser Stelle bei Euch legt nahe, dass Ihr klug und umsichtig seid, jedoch auch entschlossen handeln könnt, wenn dabei Geldangelegenheiten im Vordergrund stehen.«
Die Zuhörerinnen nahmen diese Erklärungen mit unterschiedlichen Reaktionen auf. Offenbar stimmten die meisten der guten Beurteilung zu, die Aluph ihrer Freundin aussprach. Aber hier und da wurde doch auch eine Augenbraue hochgezogen oder ein leises ungläubiges Lachen laut.
»Es gibt da noch ein anderes Feld, das mich sehr freut: das Feld E«, sagte Aluph, und Cynthia beugte sich eifrig vor. »Es ist etwas, das wir in diesen Tagen so dringend nötig haben in unserer Stadt, in der uns nachts auf den Gehwegen die Verzweiflung packt, solange dieser Mörder noch auf freiem Fuß ist. Es ist das Feld, in dem die Hoffnung angesiedelt ist. Ich muss sagen, Cynthia«, er senkte respektvoll die Stimme, »Ihr zeigt selbst im Angesicht des Unglücks eine grenzenlose Hoffnung, dass sich die Dinge bessern werden. Optimismus ist gewiss das größte Geschenk. Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass ich Köpfe untersucht habe, in denen so viel Schwermut sitzt, wie man es sich kaum vorstellen kann. Wie erfrischend für mich, jemandem mit einem Charakter wie dem Euren zu begegnen. Das macht mich hoffnungsvoll für die Zukunft.«
Cynthia fasste diese Erklärung als Kompliment auf und wurde dementsprechend rot. Ihre Freundinnen nickten verständig, manche sogar ein wenig neidisch, und die verblüffend übereinstimmende Meinung war die, dass fast jede der Damen Mrs Ecclestopes Kopf schon vorher für ganz und gar ungewöhnlich gehalten und es nur nie ausgesprochen habe.
»Abschließend, liebe Cynthia, möchte ich Euch zu Eurem Glück und Eurem Charakter gratulieren. Ihr seid einzigartig unter den Urbs Umidanern.«
Die Wangen der guten Dame glühten regelrecht, als Aluph seine Ausführungen beendet hatte, und sie war ganz atemlos. »Oh, Mr Buncombe«, japste sie, »Ihr habt meinen Tag gerettet. Wartet nur, bis ich das Arthur erzähle. Wie wird er sich freuen zu erfahren, dass er eine so kluge Frau hat. Manchmal denke ich nämlich, dass er daran zweifelt.«
»Ich bin überzeugt, es wird eine höchst willkommene Eröffnung für ihn sein«, sagte Aluph, während er eine elegante Verbeugung machte und sich dann zurückzog.
Der Butler, der an der Tür gelauscht hatte, übergab Aluph einen Lederbeutel mit Münzen.
»Mrs Ecclestope war offenbar zufrieden«, sagte er in fragendem Ton.
»Das denke ich doch«, sagte Aluph. »Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sich auch ihr Gatte den Kopf untersuchen lassen sollte.«
»In der Tat, Sir«, sagte der Butler unbeirrbar, »eine wirklich raffinierte Idee, wenn Ihr mich fragt. Und sich vorzustellen, dass manche Leute das alles als Q-U-A-T-S-C-H abtun!«
»Was für eine Vorstellung!«, sagte Aluph lächelnd. »Was für eine Vorstellung!«
Kapitel 23
Eine grausige Entdeckung
Da hat’s jemand erwischt!«, tönte der Schrei eines Jungen vom Ufer des Foedus. »Da hat’s jemand erwischt!«
Ein aus dem Fluss auftauchender Körper stieß bei den Urbs Umidanern immer auf Interesse. Für gewöhnlich handelte es sich bei den Opfern des Foedus um fremde Seeleute von den Schiffen, die mit exotischen und duftenden Ladungen über den Fluss segelten. Oft hatten diese Schiffe schon viele Wochen auf See hinter sich, sodass die durstigen Matrosen bei der erstbesten Gelegenheit von Bord gingen und zielstrebig in die Kneipen am Hafen stürmten. Nach einer langen durchzechten Nacht war dann schon manch betrunkener Matrose auf dem nassen Deck ausgerutscht und im Fluss gelandet. Und das bedeutete das Ende. Im Winter, wenn die unerbittliche Kälte das Flusswasser zu einer zähflüssigen Masse verdickte, war das Spritzgeräusch beim Eintauchen eines schweren Gegenstands, eines Menschen oder von etwas anderem, nur sehr leise. Und sollte doch jemand den Sturz gehört haben, konnte man in einer Stadt wie Urbs Umida nicht unbedingt mit der Hilfsbereitschaft der Einwohner rechnen.