Irgendwann wurden alle diese Leichen natürlich an die Oberfläche getrieben. Fremde, die man nach ihrer Hautfarbe und ihrem Aussehen identifizierte, wurden sorgfältig nach Gold (Zähne und Ohrringe) durchsucht, ehe man sie in den Fluss zurückwarf. Man handelte dabei nach der Vorstellung, dass schließlich jeder ordentliche Seemann sein Grab in den Wellen finden wolle. Außerdem gab es die stille Übereinkunft, dass, wer eine Leiche entdeckte, ein Anrecht auf die Beute besitze. Daher das aufgeregte Geschrei des Jungen. Diesmal jedoch sollte er enttäuscht werden, denn es war nur die Leiche von Harry Etcham, die der Foedus freigab.
Harry, zu Lebzeiten ein wohlbeleibter Mann, sah als Toter noch aufgedunsener aus. Nachdem er in den Fluss gestoßen worden war, hatte er sich in einem Gewirr von Wasserpflanzen verfangen und lag nun schon seit Tagen im Foedus neben dem Pfeiler des dritten Brückenbogens. Wenn man sehr genau hinschaute, ließ sich knapp unterhalb der Wasseroberfläche seine Nasenspitze erkennen.
Nun würde er nie mehr erfahren, wer ihn über die Mauer gestoßen hatte, doch mit diesem Problem war er weder der Erste noch der Letzte. Der Foedus, der ihn länger im Griff gehabt hatte als die meisten anderen, wurde seines aufgeweichten runzligen Körpers schließlich überdrüssig und spülte ihn ans Ufer nahe der Treppe. Er landete nicht auf dem, sondern im Uferschlamm (aufgrund seines Gewichtes) und bildete dort eine deutliche Vertiefung, etwa so wie manch ausgestorbenes Meerestier aus längst vergangenen Zeiten. Kaum hörten die Leute das Geschrei des Jungen, kamen sie von allen Seiten herbeigerannt, um zu sehen, was es gäbe. So viel Aufmerksamkeit wie an diesem Tag war dem armen Harry zu Lebzeiten nie vergönnt gewesen.
Rein zufällig ging gerade in diesem Augenblick Aluph Buncombe über die Brücke. Er pfiff vergnügt vor sich hin, die Börse mit dem klimpernden Inhalt sicher an der Innenseite seiner Kniehose festgebunden. Gerade kam er von einer sehr erfolgreichen Sitzung bei einer von Cynthia Ecclestopes Freundinnen, wo man ihm außerdem weitere Aufträge in ihrem vornehmen Kreis in Aussicht gestellt hatte. Er traf gleichzeitig mit Wachtmeister Coggley am Schauplatz ein, der sich gerade mühsam durch die dicht stehende Menge kämpfte.
»Zurücktreten! Zurück!«, knurrte er. Widerwillig kam man der Aufforderung nach und Aluph nutzte geschickt den frei werdenden Gang, um dem Wachtmeister dicht auf den Fersen zu folgen. Coggley stieg vorsichtig zum schlammigen Ufer hinunter und beugte sich mit vor Ekel hochgezogener Lippe über Harrys Leiche.
»Ich brauche Hilfe!«, rief er zu den Zuschauern hinauf, doch er blickte nur gegen eine Wand steinerner Gesichter.
»Wartet, ich helfe Euch«, sagte Aluph und stieg ebenfalls hinunter. Sein Interesse an derart grausigen Dingen unterschied sich schließlich von dem der anderen Einwohner. Ihm ging es nicht um Geld oder Sensationslust, sondern um wissenschaftliche Erkenntnisse. Was er in den Salons auf der anderen Seite des Flusses auch sagen mochte, Aluph hatte tatsächlich ein echtes Interesse an der »Landkarte des Schädels«. Vor Kurzem hatte er die Theorie formuliert, dass die Bestimmung von Schädelregionen möglicherweise einen Hinweis darauf liefere, ob der Betreffende zu Missgeschicken neige. Er überlegte außerdem, und das war ein absolut spannender Gedanke, dass sich vielleicht sogar daraus schließen ließe, ob eine Person etwa mehr als eine andere dazu bestimmt sei, einem Mörder zum Opfer zu fallen. Zurzeit verständlicherweise ein aktuelles Thema.
Angenommen, es wäre tatsächlich so, dachte er bei sich. Ich könnte dazu beitragen, dass Menschen in der Lage wären, ihrer Ermordung aus dem Weg zu gehen. Ich wäre eine Art Schädel-Wahrsager. Er brauchte nicht erst seinen Kopf abzutasten, um zu wissen, dass eine solche Begabung äußerst förderlich für seinen beruflichen Erfolg wäre. Wachtmeister Coggley musterte Aluph von Kopf bis Fuß, bemerkte die feine Aufmachung und das Monokel und fragte sich, was ein solcher Mann auf der südlichen Flussseite zu suchen habe. Er zog die Schultern hoch.
»Dann fasst mal mit an, Sir«, keuchte er, während er unter Schnaufen und Ächzen versuchte, Harry auf die Seite zu rollen.
Gemeinsam gelang es ihnen, Harry bis zur Treppe zu zerren. Dort ruhten sie sich ein Weilchen aus und Aluph sagte: »Findet Ihr nicht, dass er etwas merkwürdig aussieht?«
Das Schweigen von oben war sozusagen ohrenbetäubend, und als Aluph aufblickte, sah er, dass die Menge von der Mauer zurückgewichen war. Coggley trat vor, um besser sehen zu können, und im selben Augenblick explodierte Harry Etchams praller Bauch, und die widerwärtige Brühe, die sich beim Zersetzungsprozess eines verwesenden Körpers bildet, ergoss sich über die in der Nähe Stehenden (vor allem über den Wachtmeister). Aluph wurde durch den für ihn günstigen Standort des Wachtmeisters vor dem Sprühregen abgeschirmt und kam einigermaßen glimpflich davon. Wachtmeister Coggley dagegen hatte das Pech, dass ihm das faulige Zeug langsam übers Gesicht rann.
»Iiii!«, rief die Menge einstimmig, bevor alle in lautes, freches Gelächter ausbrachen. Nichts konnte sie mehr erheitern als den örtlichen Wachtmeister in einer so misslichen Lage zu sehen. Coggley war selbst kurz davor zu explodieren und drohte der Horde mit seiner glitschigen Faust.
»Wie könnt ihr es wagen, einen Vertreter des Gesetzes auszulachen!«, sprudelte er. »Ich lasse euch in Irongate einsperren, ehe ihr bis drei zählen könnt!«
Darauf reagierte die Menge nur mit Spottrufen, manche gestikulierten vielsagend mit den Fingern. Zögernd bot Aluph Coggley sein Taschentuch an, lehnte dabei aber ausdrücklich jede Rückgabe ab. Danach zogen sie die unansehnlichen (doch wesentlich leichteren) Reste von Harry Etcham die Treppe hinauf, wo bereits Pferd und Wagen warteten, um ihn in die Leichenhalle zu bringen.
»Glaubt Ihr, er war schon tot, als er in den Fluss fiel?«
Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen. Vermutlich ist er von der Brücke gesprungen.«
Es war nichts Ungewöhnliches, dass Einwohner von Urbs Umida ihrem Leben auf diese Weise ein Ende setzten.
»Und der Silberapfel-Mörder?«, fragte Aluph. »Solltet Ihr Euch nicht vielleicht nach einem Apfel umschauen?«
»Äh, genau mein Gedanke!« Coggley fingerte in Harrys durchweichter Westentasche herum und brachte eine Karotte und zwei Zwiebeln zum Vorschein.
»Versucht es in der anderen Tasche«, drängte Aluph, und zögernd kam der Wachtmeister der Aufforderung nach.
»Tatsächlich, er ist ermordet worden!«, sagte Coggley grimmig und streckte die Hand aus, in der nun ein glänzender Silberapfel lag.
Aluph nahm ihn und drehte ihn um. Als er an der Oberfläche kratzte, löste er mit dem Fingernagel einen Silberspan ab. »Er ist angemalt«, sagte er. »Ich möchte mal wissen, warum.«
Coggley schnaubte. Der Silberapfel-Mörder raubte ihm zurzeit den Schlaf. Jedes Mal, wenn man wieder eine Leiche gefunden hatte, wurde Coggley vor den obersten Friedensrichter zitiert. Dem musste er dann erklären, warum er mit der Verhaftung des Mörders mit dem fruchtigen Namen anscheinend keinen Schritt weitergekommen war als in der letzten Woche und in der Woche zuvor. Als Antwort auf Aluphs Frage schüttelte er nur ratlos den Kopf, und in seiner Stimme lag Verzweiflung. »Wer weiß? Ich habe in dieser Stadt schon manche Verrücktheiten erlebt.«