Rudy war schon sein Leben lang mit diesem Gewerbe vertraut, dem Gewerbe des Sonderbaren, Abstoßenden, Beängstigenden. Und je abscheulicher es war, desto glücklicher machte ihn das, denn er wusste, dass es alle Frauen und Männer ansprechen würde, egal für wie gebildet sie sich hielten. Früher hatte Rudy über einen ganzen Zirkus geherrscht. Rudy Idolices Panoptikum der kuriosen Wunder. In seinen klareren Momenten erinnerte er sich liebevoll daran. Damals war er natürlich jünger gewesen, von jugendlichem Schwung und nicht ganz so abhängig vom Alkohol.
Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs hatte er fünf Wagen und zwanzig Ausstellungsstücke besessen. Manchmal hatte er auch großspurig einundzwanzig angekündigt, je nachdem, ob er den Mann mit den zwei Köpfen als ein oder als zwei Wesen einstufte. Was für ein Anblick, wenn der mit sich selbst stritt! Und dann war da die Frau, die sich in ihren eigenen Ellbogen beißen konnte. Rudy kicherte. Die war vielleicht eine Nummer! Bevor sie auftrat, hatte er für gewöhnlich Wetten aus dem Publikum angenommen. Es gab immer jemanden, der meinte, das könne er auch. Oh, dieses Knacken von Knochen und das Ächzen und Stöhnen, wenn sie sich bei ihren Versuchen halb verrenkten. Aber die Frau – Matilda hatte sie geheißen –, die konnte das ohne Mühe. Es zerrte an den Nerven, wenn man zusah, wie sich ihre Zähne um ihren Ellbogen schlossen, aber es war gleichzeitig auf seltsame Art faszinierend. Und dann war da noch der Mann mit den drei Beinen. Rudy musste sogar jetzt noch schmunzeln, wenn er an dessen Nummer dachte. Was für ein Stepptänzer!
In dieser merkwürdigen Welt kam Rudy zu Ruhm und Geld, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Doch wenn einer erst solche Höhen erlangt hat, ist die Chance des Falls oft genauso groß wie die des weiteren Aufstiegs. Rudy fiel. Und was war das für ein Sturz gewesen! Innerhalb von Monaten die Arbeit von zwanzig Jahren zunichte! Die Schuld gab er der Frau mit dem Bart. Bei Gott, die konnte bechern! Sie war es gewesen, die ihn an den Schnaps gewöhnt hatte, die ihm seine Geheimnisse, einschließlich der Höhe seines Vermögens, entlockt und dann die anderen Ausstellungsmonster gegen ihn aufgehetzt hatte. Was für ein Verrat! Sie verlangten mehr Geld, bessere Lebensbedingungen, Teepausen. Rudy ging auf nichts ein, er machte sich vor, die Leute würden ja wohl bei ihm bleiben und seine Fürsorge ihnen gegenüber mit ihrer Treue belohnen. Wo wären sie schließlich ohne ihn? Aber er hatte nicht mit dem zweiköpfigen Mann gerechnet. Der hörte ausnahmsweise mal auf, mit sich selbst zu streiten, steckte seine zwei Köpfe zusammen und überredete die andern, bei dem Aufstand mitzumachen. Sie packten ihre Siebensachen, schickten Rudy in die Wüste und gingen zur Konkurrenz.
Am Ende war das Biest seine Rettung gewesen. Sobald er es nur anschaute, verblüffte ihn allein der scheußliche Anblick immer wieder aufs Neue. In Wahrheit war das Biest nicht ganz so abstoßend gewesen, als Rudy ihm im Wald an einem steilen Berghang in der Nähe eines Dorfes begegnet war. Damals führte es noch ein aktiveres Leben. Die Dorfbewohner versuchten verzweifelt, es loszuwerden, weil es jede Nacht ein Schaf aus der kleinen Jocastar-Herde riss und die Wolle dieser Tiere ihre Haupteinnahmequelle bildete. Als Rudy von dem seltsamen Wesen hörte, machte er sich sofort auf den Weg zu diesem Dorf. Für Geld – weniger, als er verlangt hatte, aber doch genug, wenn er seine damaligen Verdienstmöglichkeiten bedachte – fing er das Biest, sperrte es in einen Käfig und nahm es mit.
Wohin er auch kam, überall war die Kreatur ein großer Erfolg. Rudy war nicht intelligent, er konnte kaum lesen und seinen Namen schreiben, doch er besaß ein angeborenes Gespür für die menschliche Natur. Jeder Mensch war fasziniert vom Sonderbaren, egal welcher Schicht er sich zurechnete. Jedes Mal, bevor Rudy weiterzog, schickte er einen Läufer voraus in die nächste Stadt, um ihre bevorstehende Ankunft bekannt zu machen. Oft war das nicht einmal nötig: Die Nachricht von der Abscheulichkeit des Wesens war ihm vorausgeeilt.
Nun stand Rudy Idolice im Halbdunkel vor dem Käfig und rieb sich die Hände. Es war seine Idee gewesen, die Lampen nur schwach brennen zu lassen: Das schärfte die Ohren. Im trüben Licht verbreitete das Biest noch größeren Schrecken. Man hörte sein Kauen und Schlürfen und Schnüffeln und Schnauben – und das Schaben seiner Krallen, wenn es versuchte, die Knorpelreste zwischen den Zähnen herauszupulen.
Rudy gluckste ein bisschen und beglückwünschte sich wieder einmal, während er so durch die Gitterstäbe schaute und die Münzen in seiner Tasche klimpern ließ. »Wir sind ein starkes Team, du und ich«, sagte er. »Wir machen unsere Sache gut.«
Das Schmatzen hörte auf. Das Biest schnüffelte lautstark, wälzte einen tiefen Rülpser hervor und kam dann zum vorderen Teil des Käfigs geschlurft. Rudy wich zurück.
»Meine Güte«, murmelte er, »du bist aber wirklich abgrundtief scheußlich!«
Das Biest sah ihn aus riesengroßen dunklen Augen an und blinzelte. Dann spitzte es die gummiartigen Lippen und ließ einen langen Spuckestrahl auf Rudys Stirn platschen. Rudy schrie auf, denn der Speichel brannte wie Feuer, und instinktiv wischte er sich mit der Hand über die Stirn. Ein Fehler. Seine Hand würde noch drei Tage nach fauligem Fleisch stinken.
»Du bist genauso widerlich wie diese Stadt, du Monster«, murmelte er und stieg wieder hinauf zur Bequemlichkeit seines Stuhles und zu seiner Ginflasche.
Er rieb immer noch mit einem feuchten Lappen an seiner Hand herum, als er Schritte hörte.
»Ihr schon wieder?«, sagte er zu dem Kunden und streckte die Hand nach einer Sixpencemünze aus, ehe er den Vorhang zurückzog.
Kapitel 25
Das Gefräßige Biest
Der Flinke Finger war zum Bersten voll mit ausgelassen Feiernden. In abgetrennten Nischen drängten sich Frauen und Männer und machten zweifelhafte Geschäfte. So lebhaft war das ganze Hin und Her, das Nicken und Zwinkern und Schubsen, dass man an eine Vogelschar erinnert wurde, die sich auf einem Dachfirst drängelt. Seltsame Arten des Zeitvertreibs waren zu beobachten; diese Woche war Rüsselkäfer-Rennen die Lieblingsbeschäftigung, und natürlich fanden Glücksspiele aller Art statt. Wie immer gab es Lachen und Triumphgeschrei und verzweifelte Ausrufe, je nachdem, ob Geld gewonnen oder verloren wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Getränke über Köpfe gekippt würden, bis Stühle fliegen und Raufereien ausbrechen würden.
Pin ging hinter Juno und sah, wie sich ein Mann, der im Gegensatz zu seinen Kameraden recht prahlerisch gekleidet war, den Schweiß von der gerunzelten Stirn wischte. Nach seinem Äußeren zu schließen, wohnte er wahrscheinlich außerhalb der Stadtmauern. Er hatte ein Blatt Karten in der Hand.
Witternd sog Pin die Luft ein. Du verlierst, dachte er, und zwar schwer.
In diesem Augenblick stöhnte der Mann laut auf und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Zahlen, Mr Ratchet«, knurrte sein einäugiger Gegner, zweifellos ein Seemann, wie sich an dem schmuddeligen Halstuch und dem Ohrring erkennen ließ. Aus seinem Gürtel ragte der Griff seines gekrümmten Messers. Ratchet grub in seinen Taschen und fing an, den Inhalt auf den Tisch zu schütten – aber nicht schnell genug. Im Nu hatte ihm der Seemann sein Messer an die Kehle gesetzt. Damit schien er seinen Zechbruder zu überzeugen, dass Eile geboten war. Der Matrose fing Pins Blick auf und ein Grinsen breitete sich langsam über sein wettergegerbtes Gesicht. Pin zog den Kopf ein und ging hastig weiter. Wenn dieser Ratchet nach Angst roch, so roch der Seemann nach Unberechenbarkeit.
Am hinteren Ende der Schenke stießen sie auf Rudy Idolice, der zusammengesunken auf seinem Stuhl saß. Auch er hatte einen durchdringenden Geruch an sich, und zwar den nach ungewaschenen Achselhöhlen. Er öffnete ein Auge, brachte ein Lächeln zustande, wobei er seine schwarzen Zahnstummel entblößte, und streckte die Hand aus.