»Sechs Pence pro Person«, brummte er. »Die Augen werden euch aus den Köpfen fallen«, behauptete er kurz angebunden, während sich seine zitternden Finger um das Geld schlossen. »Ich garantiere euch, was ihr da unten zu sehen kriegt, habt ihr noch nie gesehen!« Seine Stimme erstarb, der kurze Funke von Begeisterung war wieder erloschen. Das Geschäft mit dem Gefräßigen Biest lief von selbst.
Rudy zeigte mit einer Hand auf das Warnschild von Betty Peggotty und zog mit der anderen den Vorhang beiseite. Dann stieß er die beiden gewissermaßen die Treppe hinunter.
Das Biest saß oder lag – das ließ sich wegen der Dunkelheit schwer sagen – in seinem Käfig hinter dicken Eisenstäben. Sie waren so nebeneinander angebracht, dass ein Mensch gerade noch die Hand hindurchstecken konnte. Vorn im Käfig, direkt hinter den Stäben, war der feuchte Lehmboden mit Heu und Sägemehl bestreut sowie mit den Überresten von etwas, das wie ein Schwein aussah. Fliegen umkreisten das Fleisch und setzten sich darauf, augenlose Maden krochen darüber. In der anderen Ecke war ein großes Strohlager. Es wirkte dicht zusammengepresst, als hätte ein schweres Gewicht daraufgelegen. Daneben stand ein Trog, halb gefüllt mit abgestandenem, von einer grünlichen Schimmelschicht überzogenem Wasser. Vor dem Käfig war der Boden regelrecht platt getreten von all den scharrenden und schabenden Füßen, die den ganzen Tag über hier standen. Und die feuchten Steinmauern warfen die staunenden Rufe und Seufzer derer zurück, die hierherkamen, um in den Käfig zu glotzen und sich über die Kreatur auszulassen.
Juno und Pin standen hinter der kleinen Menschenansammlung, die sich vor dem Käfig drängte. Das Biest jedoch hatte seinem Publikum den breiten behaarten Rücken zugekehrt und verharrte unerschütterlich in regloser Haltung. Auch Zurufe wie »He, Biest!« oder »He, du haariger Kloß!« und ähnliche Begrüßungen konnten es nicht aus der Ruhe bringen.
»Vielleicht schläft’s ja«, sagte einer vorsichtig, ein kleiner Kerl mit einem großen Hut.
»Oder es is beleidigt«, sagte ein anderer und warf eine Möhre durch die Stäbe, die das Tier an der Schulter traf. Es rührte sich kaum.
»Glaube nur nicht, dass es Gemüse frisst«, sagte der mit dem Hut. Er hatte gerade das halb verrottete Fleisch im Käfig entdeckt.
»Egal, ich hab gutes Geld für das hier bezahlt«, sagte ein Dritter und hob einen langen, an einem Ende angespitzten Stock auf, der günstigerweise auf dem Boden lag (man fragt sich, ob er nicht extra zu diesem Zweck dorthin gelegt worden war). Und unter den begeisterten Zurufen der Männer und dem erschreckten Luftschnappen der Frauen schob er ihn zwischen den Stäben hindurch und stieß mit dem spitzen Ende gegen das ausladende Hinterteil des Biests. Ein schwaches Zucken, eine Fliege summte, sonst nichts.
»Noch mal, Charlie«, drängten seine Freunde. »Stoß es doch noch mal an!« Jeder in der Gruppe wünschte insgeheim, er wäre derjenige gewesen, der den Stock gefunden hatte. Und doch war jeder auch gleichzeitig erleichtert, dass er ihn nicht als Erster entdeckt hatte. Charlie, dem nun klar wurde, dass er seine Freunde nicht enttäuschen durfte, führte noch einmal den Stock durch die Stäbe und stieß das Wesen so kräftig, dass er Mühe hatte, den Stock zurückzuziehen. Die Wirkung zeigte sich prompt.
»AAARRRGH!«, brüllte das Biest. Im Nu war es aufgesprungen, schnellte herum und warf sich gegen die Stäbe, dass der ganze Raum von der Wucht des Aufpralls widerhallte. Charlie und seine Freunde sprangen geschlossen zurück, schreiend und kreischend, dann lösten sie sich voneinander und stürmten die Treppe hinauf. Jeder gesellschaftliche Anstand war abgelegt, und Männer und Frauen – es handelte sich gewiss nicht um Damen und Herren – stießen und drängten hinauf und zogen Juno und Pin mit sich.
Das Gefräßige Biest richtete sich zu voller Größe auf, mehr als zwei Meter, umklammerte mit seinen Pranken die Stäbe und rüttelte daran. Wieder brüllte es, wobei es seine gelblichen Zähne samt vier langen braunen Reißzähnen fletschte. Speichel sammelte sich hinter der unteren Zahnreihe, bis er überlief und in langen schleimigen Fäden aus seinem Maul rann.
Doch jetzt war es wieder allein in seinem stinkenden Gefängnis. Sein Publikum war weg, ohne viel mehr als die Spuren von flüchtenden Stiefelabsätzen zu hinterlassen. Auf dem Boden lag ein kleines Spitzentaschentuch. Die Kreatur betrachtete es eine Weile nachdenklich, dann schob sie mühelos den Arm durch die Stäbe und hob es auf. Sie führte das Tüchlein an die Nase und roch daran. Zwischen seinen Falten hing noch ein schwacher Lavendelduft. Mit einem dumpfen Laut setzte sich das Monsterwesen und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Lavendel war im Frühjahr immer auf seinem Berg gewachsen.
Dem Biest fiel eine plötzliche Bewegung aus dem dunklen Winkel unter der Treppe in die Augen und es stieß ein tiefes Knurren aus. Eine schattenhafte Gestalt trat furchtlos an den Käfig heran, lehnte sich gegen die kühlen Eisenstäbe und sprach sanft und eintönig flüsternd zu dem Geschöpf. Ob es zuhörte oder nicht, war schwer zu sagen. Es ließ jedenfalls nichts davon erkennen. Nach einer Weile entfernte sich die Gestalt, stieg die Treppe hinauf und war verschwunden. Alles war wieder still, bis auf das hohe Summen einer Fliege und das Grollen aus dem Magen des Biests.
Kapitel 26
Verirrt
Draußen auf der Straße mussten Pin und Juno verschnaufen. In der kurzen Zeit, die sie im Flinken Finger verbracht hatten, war dicker Nebel vom Foedus aufgestiegen, breitete sich über die ganze Stadt aus, waberte heimtückisch um jede Hausecke und hielt sich dicht am Boden. Juno sah Pin besorgt an und strich ihm über den Arm.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie leise.
Pin nickte und vergrub seine Hände in den Achselhöhlen. »So schrecklich habe ich es mir nicht vorgestellt.«
»Hast du den Kerl gesehen, der sich unter der Treppe versteckt hatte?«
»Ja«, erwiderte Pin mit schnatternden Zähnen. »Vielleicht kümmert der sich um das Biest.«
»Wer weiß?«, sagte Juno. Sie wickelte sich fester in ihren Umhang. Trotzdem drang ihr die Kälte bis in die Knochen. »Ich erfriere«, sagte sie kläglich. »Komm, wir gehen nach Hause.«
Pin war einverstanden. Eine Weile kamen sie zügig voran. Der Nebel war inzwischen fast zum Greifen dick. Pin konnte, wenn er zu Boden blickte, die eigenen Füße nicht mehr sehen.
»Wenn wir den Fluss gefunden haben, können wir ihm folgen«, sagte er, blieb stehen und drehte sich langsam auf der Stelle.
»Kannst du ihn denn nicht riechen?«, fragte Juno. Sie war, wie immer, ein paar Schritte voraus. »Ich dachte, du kannst alles riechen.«
»Klar kann ich ihn riechen«, sagte Pin schnell. Er ärgerte sich über sich selbst. Er sollte ja wohl in der Lage sein, wenigstens den Weg zum Foedus zu finden. »Aber wenn der Gestank überall hängt, lässt sich schwer sagen, aus welcher Richtung er kommt. Überhaupt ist der Geruch heute Nacht nicht besonders stark.«
Und dann begann das merkwürdige Knarren.
»Was ist das?«, fragte Juno ängstlich.
»Keine Ahnung. So ein Geräusch habe ich noch nie gehört.«
Es war eine Art Ächzen, menschlich beinahe, aber doch auch wieder nicht.
»Ich glaube, es kommt von dort drüben«, sagte Juno. Ihre Stimme klang gedämpft.
Pin versuchte, sich zu konzentrieren. »Schscht«, machte er. Er stand reglos, lauschend, schnuppernd. »Ich denke, der Fluss müsste in dieser Richtung liegen«, sagte er schließlich.
Juno schwieg.
»Juno?«, sagte er. Und noch einmal, jetzt in gereiztem Ton: »Juno?«