Aber Juno war nicht mehr da.
Zuerst roch Pin es nur, den Gestank nach offenen Wunden, dann hörte er es atmen, scharf, rasselnd, krank. Blind vom Nebel blieb er stehen, wo er war. Plötzlich schoss von rechts eine Hand aus dem Grau und packte seinen Arm. In Panik trat Pin um sich und hörte einen Aufschrei, aber schon hatten ihn sechs, acht, vielleicht zehn Hände fest im Griff.
»Ah, was haben wir denn da?«, krächzte ihm jemand ins Ohr.
»Ich bin nur auf der Suche nach dem Heimweg«, stammelte Pin und hoffte im Stillen, Juno befinde sich weit weg. Ein buckliger Mann, der aussah, als wäre er eben dem Grab entstiegen, baute sich vor ihm auf.
»Hoho«, lachte er und bleckte dabei fünf Zähne, drei oben und zwei unten.
Pin wedelte den Nebel vor seinem Gesicht weg und sah sich eingekreist von einem lärmenden Pack elender Bettler, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten. Ihre Kleidung bestand aus Lumpen, ihre Gesichter waren pockennarbig, ihre eingefallenen Augen tränten, und alles zusammen stank. Himmel, wie sie stanken! Heute Nacht war der Nebel ihr Freund.
»Ich habe nichts für euch«, sagte Pin, während er seine Taschen umdrehte.
»Kein Geld?«, knurrte der Bucklige.
Pin schüttelte den Kopf. »Ehrlich, ich habe alles im Flinken Finger ausgegeben, um das Gefräßige Biest zu sehen.«
»Hörst du das, Zeke?«, sagte ein anderer Bettler, der ebenso widerlich aussah und roch, zu dem Buckligen. »Er hat Monster gern.«
»Was für ein Glück für dich, Kumpel!«, spottete Zeke. »Schlimm, verstehst du, wenn man nach seinem Äußeren beurteilt wird. Kann ja sein, dass wir von außen gemein aussehen, aber innen drin …«, er machte eine Pause und kam so nahe an Pin heran, dass ihre Nasen sich beinahe berührten, »… innen drin sind wir noch viel gemeiner!«
Die anderen Bettler rückten nach, sabbernd, lachend. Pin versuchte sich loszureißen, aber ihre sehnigen Arme schlossen sich wie Schraubstöcke um seine Handgelenke, Arme und Beine.
»Bringt ihn ins Versteck«, herrschte Zeke sie an. »Ich hab Hunger.«
»Halt!«
Eine Männerstimme ertönte hinter ihnen. Sie hielten inne, doch als sie sahen, auf wen sie da gehört hatten, lachten sie nur noch lauter, denn der Fremde war keineswegs eine stattliche Erscheinung. Zu Pins Bestürzung ging er sogar am Stock.
»Eine lahme Ente!«, sagte Zeke. »Geh schön nach Hause, Opa, sonst müssen wir dich auch noch braten!«
»Unterschätzt mich nicht!«, sagte der Mann. Seine Stimme klang schneidend.
»Ha! Was willst du denn tun?«
Da hörte man etwas schwirren und klicken, und ohne Warnung stürzte der Fremde vor und versetzte dem buckligen Bettler einen Stoß mit seinem Stock. Es gab ein knisterndes Geräusch, ein Rauchwölkchen, und Zeke schrie auf und fiel zu Boden. Für einen Augenblick standen seine Kumpane reglos und mit offenen Mündern da, dann liefen sie in alle Richtungen auseinander. Kurz darauf rappelte sich auch Zeke auf und kroch stöhnend davon in den Nebel.
Pin zitterte am ganzen Leib, als er sich nach dem Fremden umdrehte. »Ihr habt mir das Leben gerettet.«
»Nicht doch«, sagte der Mann.
»Wie kann ich Euch das je danken?«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte der Fremde. »Ich bin gerade unterwegs zur Brücke. Ist dir das eine Hilfe?«
»Oh ja«, sagte Pin dankbar. »Von dort aus finde ich mich zurecht.«
»Es ist näher, als du denkst«, sagte der Mann. »Ich kenne diese Stadt gut, Nebel oder nicht.« Er schritt schnell voran und hinterließ mit seinem Stock eine Lochspur im Schnee.
»Ich dachte auch, ich würde die Stadt gut kennen«, murmelte Pin beschämt.
»Du hast heute Abend das Biest gesehen«, sagte der Mann, doch nicht etwa im Plauderton, sondern wie um etwas zu bestätigen, das er schon wusste.
»Ja, das stimmt«, antwortete Pin etwas überrascht. »Woher wisst Ihr das?«
Pin nahm an, der Fremde habe ihn nicht verstanden, denn es kam keine Antwort. Sie gingen zügig weiter, wobei ständig dieses merkwürdige Ächzen und Knarren ihre knirschenden Schritte begleitete. Schließlich schien sich der Nebel etwas zu lichten, und Pin erkannte in den leuchtenden Flecken, die nach und nach vor seinen Augen auftauchten, die Straßenlampen und Wirtshäuser auf der Brücke. Sie hatten den Foedus erreicht. Pin fühlte sich langsam wieder sicher.
»Von hier aus kenne ich den Weg«, sagte Pin mit hörbarer Erleichterung. Er stand mit dem Rücken zur Uferböschung. »Ich danke Euch nochmals.« Gerade wollte er dem Fremden die Hand reichen, als ihn etwas ablenkte: Die ächzenden Laute hatten so plötzlich aufgehört, wie sie eingesetzt hatten, und es war klarer geworden.
»Hört Ihr?«, sagte er. »Dieses sonderbare Knarren ist nicht mehr da.«
Doch der Fremde machte sich gerade eifrig an seinem Stock zu schaffen.
»Sagt, was habt Ihr vorhin mit diesem Stock angestellt?«, fragte Pin neugierig.
Der Mann sah auf und ging einen Schritt auf ihn zu. Aus seinem Geruch schloss Pin, dass er sich wahrscheinlich nicht allzu oft wusch.
»Nun«, kam die Antwort, »schade, dass du das gesehen hast.«
»Warum?« Pins Vertrauen in diesen sonderbaren Retter geriet plötzlich ins Wanken.
»Weil es mein kleines Geheimnis ist.«
»Ich kann Geheimnisse gut für mich behalten«, sagte Pin, wobei er langsam zurückwich, bis seine Absätze gegen die Ufermauer stießen.
»Davon bin ich überzeugt.«
Unvermittelt trat der Mann auf Pin zu und fuhr grob mit der Hand in dessen Tasche.
»He!« protestierte Pin, doch bevor er noch etwas sagen konnte, hörte er es schwirren und klicken, spürte etwas mit explosivem Knall gegen seine Brust prallen und gleich darauf durchfuhr ihn ein elektrischer Schlag wie von einem Blitz. Er machte einen Satz rückwärts und stürzte über die Mauerkante. Er merkte, wie er fiel. Die Zeit verging langsamer als sonst und der Weg bis zur Wasseroberfläche kam ihm unendlich weit vor.
Ich rieche den Foedus gar nicht mehr, dachte er noch, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.
Kapitel 27
Gerettet
Gimir ma’ ’ne Kartoffel«, lallte der junge Bursche und zupfte an Beags Ärmel, während er ihm aus der Tür des Flinken Fingers folgte. Beag schüttelte den Kopf und wollte weggehen. Er hatte friedlich in einer Ecke gesessen und sein Bierchen getrunken, als der junge Kerl ihn als den Kartoffelweitwerfer erkannt und angepöbelt hatte. Die kalte ruhige Luft schien keinerlei Wirkung auf den betrunkenen Zustand des Kerls zu haben; er hickste laut, ging bedenklich schwankend neben Beag her und hatte sichtlich gegen die Schwerkraft zu kämpfen.
»Ich willir sseigen, wie man werfen muss.«
Beag seufzte tief und drehte den Kopf, um dem lästigen Kerl ins Gesicht zu schauen. War das wirklich seine Bestimmung? Manchmal hielt er die Qual, die er in jener Nacht auf dem Cathaoir Feasa durchgemacht hatte, für weit geringer als die Qual, die er jedes Mal in dieser Stadt durchlitt, wenn er eine Kartoffel werfen musste. Mit einem frustrierten Seufzer griff er in seine Tasche und kramte eine große Rote Hickory hervor. Er rollte sie zwischen den Händen hin und her, um die anhaftende Erde zu entfernen, denn das behinderte einen schnellen Flug durch die Luft. Dabei überlegte er, was er tun sollte. »Also schön«, sagte er schließlich und kniete nieder, um eine Linie in den Schnee zu ziehen. Und in genau dieser Stellung sah er etwas durch die Beine des Betrunkenen (sie waren weit gespreizt), das ihn aufschreien ließ.
»Bei allen Heiligen!«, murmelte er. Täuschten ihn seine Augen? Er hatte gerade gesehen, wie jemand in den Foedus fiel. »He!«, schrie Beag, sprang auf und rannte los. »Was ist da passiert, um Himmels willen?«
Ein Mann starrte in den Fluss hinunter, doch als er Beags Rufe hörte, rannte er davon. Beag versuchte mitzuhalten, merkte aber rasch, dass er ihn nicht einholen würde. Rutschend bremste er ab, dann holte er weit aus, sammelte seine ganze Kraft und warf dem Fliehenden die Kartoffel nach. Mit tiefer Befriedigung beobachtete er, wie sie kreiselnd durch die Luft zischte und den Kerl schließlich mit einem dumpfen Laut am Kopf traf. Der Aufprall ließ ihn heftig taumeln, sodass er fast stürzte, doch er konnte sich aufrappeln und verschwand in der Nacht. Beag lief zum Ufer und schaute über die Mauer.