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»1956 erhielten Sie die Erlaubnis, die Sowjetunion zu verlassen zwecks Pflege Ihres kranken Ehemannes, des Verräters Ostra­kow? Und auch zu gewissen anderen Zwecken?«

»Ostrakow war kein Verräter«, unterbrach sie ihn. »Er war Pa­triot.« Instinktiv hob sie die Einkaufstasche auf und umklam­merte den Henkel mit ganzer Kraft.

Der Fremde redete ungerührt über diesen Einspruch hinweg, und sehr laut, um das Rattern des Busses zu übertönen. »Ostra­kowa, ich bringe Ihnen Grüße von Ihrer Tochter aus Moskau, ferner von gewissen offiziellen Stellen. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen. Steigen Sie nicht ein.«

Der Bus hatte angehalten. Der Fahrer kannte sie und streckte die Hand nach ihrer Tasche aus. Der Fremde fügte mit gesenkter Stimme noch eine schreckliche Bemerkung hinzu: »Alexandra hat ernsthafte Schwierigkeiten, die des Beistands einer Mutter bedürfen.«

Der Fahrer forderte sie zum Einsteigen auf. Er tat es in dem rup­pigen Ton, den sie beide sonst scherzhaft gebrauchten. »Los, Mütterchen! Zu heiß für die Liebe. Geben Sie mir Ihre Tasche, und ab die Post!«

Drinnen ertönte Gelächter; dann schimpfte jemand - diese Alte hält den ganzen Betrieb auf! Sie spürte die Hand des Fremden, der unbeholfen nach ihrem Arm griff, wie ein linkischer Liebha­ber, der nach den Knöpfen grapscht. Sie riß sich los. Sie versuch­te, dem Fahrer etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus: Sie öffnete den Mund, schien jedoch das Sprechen verlernt zu ha­ben. Nur mit Mühe konnte sie ein Kopfschütteln zustande brin­gen. Der Fahrer rief ihr noch etwas zu, dann winkte er achsel­zuckend. Die Schimpfkanonade verstärkte sich - alte Vettel, mittags schon besoffen, wie eine Hure! Regungslos sah die Ostrakowa zu, wie der Bus abfuhr und verschwand; sie wartete, bis ihre Sicht wieder klarer wurde und ihr Herz zu galoppieren aufhörte. Jetzt brauche ich ein Glas Wasser, dachte sie. Gegen die Starken kann ich mich selbst schützen. Gott bewahre mich vor den Schwachen.

Sie folgte ihm schwer hinkend in ein Lokal. In einem Zwangsar­beitslager hatte sie sich vor genau fünfundzwanzig Jahren bei ei­nem Kohlenschlipf im Bergwerk das Bein an drei Stellen gebrochen. Am heutigen vierten August - das Datum war ihr nicht entfallen - war unter dem grausamen Schlag, den die Mitteilung des Fremden ihr versetzt hatte, wieder das Gefühl des Verkrüp­peltseins über sie gekommen.

Das Lokal war das letzte in der Straße, wenn nicht in ganz Paris, wo es weder Neonlicht noch Jukebox gab, dafür allerdings ei­nige Spielautomaten, die von früh bis spät rumsten und blitzten. Im übrigen herrschte das gewohnte mittägliche Stimmengewirr; es ging um hohe Politik, Pferderennen oder was sonst die Pariser beschäftigt; da war auch das übliche Trio von Prostituierten, die leise miteinander sprachen, und ein stumpfsinniger junger Kell­ner in einem schmutzigen Hemd, der die neuen Gäste sofort zu einem Ecktisch führte, den ein schmuddeliges Campari-Auf­stellschild als reserviert kennzeichnete. Es folgte ein Augenblick lächerlicher Banalität. Der Fremde bestellte zweimal Kaffee, doch der Kellner wandte ein, daß man zu Mittag nicht den besten Tisch des Hauses reservieren lasse, nur um Kaffee zu trinken: Derpatron muß ja schließlich seine Miete bezahlen, Monsieur. Das Ganze in einem Patois, dem der Fremde nicht zu folgen vermochte, so daß die Ostrakowa übersetzen mußte. Der Fremde errötete und bestellte, ohne die Ostrakowa zu fragen, zweimal Schinkenomelett mit frites, sowie zwei Bier. Dann strebte er nach »Herren«, um sich aufzumöbeln - offenbar im Vertrauen darauf, daß sie ihm inzwischen nicht ausrücken wer­de -, und als er zurückkam, war sein Gesicht trocken und das rötliche Haar gekämmt, doch der Mief, der jetzt in dem ge­schlossenen Raum von ihm ausging, erinnerte die Ostrakowa an Moskauer U-Bahnen, an Moskauer Straßenbahnen und an Mos­kauer Verhörräume. Auf seinem kurzen Gang von der Herren­toilette zum Tisch hatte er ihr, beredter als mit allem, was er ihr je hätte sagen können, bestätigt, was sie bereits befürchtet hatte: Er war einer von »ihnen«. Der verborgene Dünkel, die bewußte Unmenschlichkeit des Ausdrucks, die gewichtige Art, wie er jetzt die Unterarme auf dem Tisch hochwinkelte und mit gespiel­ter Unschlüssigkeit nach einem Stück Brot im Körbchen griff, als tauche er eine Feder ins Tintenfaß, das alles erweckte in der Ostrakowa die schlimmsten Erinnerungen an ihr Leben als »ge­fallene« Frau unter dem Druck einer übelwollenden Moskauer Bürokratie.

»So«, sagte er und nahm gleichzeitig ein Stück Brot. Er wählte ein knuspriges Endstück. Mit seinen Pranken hätte er es im Nu zerquetschen können, doch statt dessen zupfte er mit fetten Fin­gerspitzen damenhaft Flocken daraus, als sei dies die offizielle Eßart. Während er knabberte, rutschten seine Brauen in die Höhe, und seine Augen füllten sich mit Selbstmitleid, ich armer Mensch in diesem fremden Land. »Weiß man hierorts, daß Sie in Rußland ein unmoralisches Leben geführt haben?« fragte er schließlich. »Nun, vielleicht nehmen sie's in einer Stadt voller Huren damit nicht so genau.«

Die Antwort lag ihr fix und fertig auf der Zunge: Mein Leben in Rußland war nicht unmoralisch. Unmoralisch war nur Ihr Sy­stem.

Aber sie sagte es nicht, sondern verharrte in Schweigen. Die Ostrakowa hatte sich geschworen, ihr scharfes Temperament und ihre scharfe Zunge an die Kandare zu nehmen, und sie half nun körperlich der Einhaltung dieses Gelübdes nach, indem sie unter dem Tisch ein Stück Haut an der weichen Innenseite des Handgelenks ergriff und es durch den Ärmel hindurch mit aller Gewalt zusammenkniff, so, wie sie es damals Hunderte von Ma­len getan hatte, als derartige Verhöre für sie an der Tagesordnung waren. - Wann haben Sie zuletzt von Ihrem Mann, dem Verräter Ostrakow, gehört? Nennen Sie alle Personen, mit denen Sie in den letzten drei Monaten zusammengekommen sind! Zu ihrer bitteren Erfahrung hatte sie auch die übrigen Lektionen des Ver­hörs gelernt. Ein Teil ihrer selbst spielte sie in diesem Augenblick durch, und obgleich diese Lektionen, geschichtlich gesehen, be­reits der vorhergehenden Generation angehörten, schienen sie ihr so zutreffend, wie gestern, und ebenso lebenswichtig: nie der Ruppigkeit mit Ruppigkeit begegnen; sich nie provozieren las­sen, nie auftrumpfen, nie witzig oder überlegen oder geistreich sein; sich nie aus der Fassung bringen lassen aus Wut oder Ver­zweiflung oder durch das Aufwallen einer jähen Hoffnung, die eine bestimmte Frage erwecken könnte. Stumpfsinn mit Stumpf­sinn erwidern und Routine mit Routine. Und nur tief, tief innen die beiden Geheimnisse verwahren, die alle diese Erniedrigun­gen erträglich machten: ihren Haß auf »sie« und die Hoffnung, eines Tages, nach endlos vielen Tropfen Wasser auf den Stein, durch Verschleiß und durch eine wunderbare Fehlschaltung des schwerfälligen Behördengetriebes, von »ihnen« die Freiheit zu erhalten, die sie ihr verweigerten.

Er hatte ein Notizbuch gezogen. In Moskau wäre es die Akte Ostrakowa gewesen, aber hier in einem Pariser Bistrot war es ein glattes, schwarzes, ledergebundenes Notizbuch, über dessen Besitz sich in Moskau sogar ein Funktionär glücklich gepriesen hätte.

Akte hin, Notizbuch her, die Vorrede war die gleiche: »Sie wur­den als Maria Andrejewna Rogowa am 8. Mai 1927 in Leningrad geboren«, wiederholte er. »Am 1. September 1948 heirateten Sie, im Alter von 21 Jahren, den Verräter Ostrakow, Igor, Infan­teriehauptmann in der Roten Armee, Sohn einer estnischen Mut­ter. 1950 desertierte besagter Ostrakow, der damals in Ost-Ber­lin stationiert war, mit Unterstützung reaktionärer estnischer Emigranten verräterisch in die faschistische Bundesrepublik und ließ Sie in Moskau zurück. Er ging nach Paris, nahm später die französische Staatsbürgerschaft an und unterhielt Kontakte zu antisowjetischen Elementen. Zum Zeitpunkt seiner Fahnen­flucht hatten Sie kein Kind von diesem Mann. Auch waren Sie nicht schwanger. Richtig?«