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»Richtig«, sagte sie.

In Moskau hätte sie gesagt: »Richtig, Genosse Hauptmann« oder: »Richtig, Genosse Kommissar«, aber in einem lärmenden französischen Bistrot war eine derartige Förmlichkeit unange­bracht. Die Hautfalte an ihrem Handgelenk war taub geworden. Sie ließ los, wartete, bis die Stelle wieder durchblutet war, und kniff von neuem zu.

»Als Ostrakows Komplizin wurden Sie zu fünf Jahren Arbeits­lager verurteilt, jedoch vorzeitig aufgrund der Amnestie nach Stalins Tod im März 1953 freigelassen. Richtig?«

»Richtig.«

»Nach Ihrer Rückkehr nach Moskau haben Sie trotz der Aus­sichtslosigkeit eines solchen Unterfangens einen Auslandspaß beantragt, um zu ihrem Mann nach Frankreich zu reisen. Rich­tig?«

»Er litt an Krebs« sagte sie. »Hätte ich keinen Antrag gestellt, so wäre ich meiner Pflicht als Ehefrau nicht nachgekommen.«

Der Kellner servierte die Omelettes mit frites und zwei Elsässer Biere, und die Ostrakowa bat, einen thé citron zu bringen: Sie war durstig, machte sich aber nichts aus Bier. Als sie sich an den garçon wandte, versuchte sie, mit Lächeln und Blicken eine Brücke zu ihm zu schlagen, prallte aber an seiner steinernen Gleichgültigkeit ab; sie bemerkte, daß sie außer den drei Prosti­tuierten die einzige Frau im Lokal war. Der Fremde hielt das Notizbuch schräg vor sich, wie ein Missale, schaufelte eine Ga­belvoll ein, dann noch eine, während die Ostrakowa den Griff auf das Handgelenk verstärkte. Alexandras Name pulsierte in ih­rem Kopf wie eine offene Wunde, und sie erwog tausenderlei ernsthafte Schwierigkeiten, die des Beistands einer Mutter be­dürften.

Der Fremde fuhr essend mit ihrer Lebensgeschichte fort. Aß er zum Vergnügen, oder aß er nur, um nicht wieder aufzufallen? Sie kam zu dem Schluß, daß er ein Gewohnheitsesser sei.

»Zwischenzeitlich«, verkündete er kauend.

»Zwischenzeitlich«, flüsterte sie unwillkürlich.

»Zwischenzeitlich«, gab er mit vollem Mund von sich, »gingen Sie, ungeachtet Ihrer angeblichen Sorge um Ihren Mann, den Verräter Ostrakow, ein ehebrecherisches Verhältnis mit dem so­genannten Musikstudenten Glikman, Joseph, ein, einem Juden mit vier Vorstrafen wegen antisozialen Verhaltens, den Sie wäh­rend Ihrer Haft kennengelernt hatten. Sie lebten mit diesem Ju­den in dessen Wohnung zusammen. Richtig oder falsch?«

»Ich war einsam.«

»Als Folge dieses Konkubinats mit Glikman haben Sie im Ent­bindungsheim Oktoberrevolution in Moskau eine Tochter zur Welt gebracht, Alexandra. Die Elternschaftsurkunde wurde von Glikman, Joseph, und Ostrakowa, Maria, unterzeichnet. Das Mädchen wurde auf den Namen des Juden Glikman standesamt­lich eingetragen. Richtig oder falsch?«

»Richtig.«

»Die ganze Zeit über haben Sie Ihr Gesuch um einen Auslands­paß aufrechterhalten. Warum?«

»Sagte ich Ihnen schon. Mein Mann war krank. Es war meine Pflicht, das Gesuch aufrechtzuerhalten.«

Er aß wieder, so gierig, daß er seine zahlreichen schlechten Zähne zur Schau stellte. »Im Januar 1956 wurde Ihnen auf dem Gnaden­weg ein Paß ausgestellt, unter der Bedingung, daß Sie Ihre Tochter Alexandra in Moskau zurückließen. Sie haben die genehmigte Aufenthaltsfrist überschritten und sind in Frankreich geblieben, ohne Rücksicht auf Ihr Kind. Richtig oder falsch ?«

Die Eingangstür und die Fassade waren aus Glas. Ein großer La­ster parkte davor, und im Lokal wurde es plötzlich dunkel. Der junge Kellner knallte ihren Tee hin, ohne sie anzusehen.

»Richtig«, sagte sie wieder und brachte es fertig, den Fremden anzuschauen. Sie wußte sehr wohl, was nun kommen würde, und zwang sich, ihm zu zeigen, daß sie wenigstens in dieser Hin­sicht keine Zweifel und kein Bedauern hegte. »Richtig«, wieder­holte sie herausfordernd.

»Als Gegenleistung für eine wohlwollende Verbescheidung Ihres Antrags durch die Behörden hatten Sie sich den Organen des Staatssicherheitsdienstes gegenüber schriftlich verpflichtet, während Ihres Pariser Aufenthalts gewisse Aufgaben durchzu­führen. Erstens, Ihren Mann, den Verräter Ostrakow, zu über­reden, in die Sowjetunion zurückzukehren.«

»Versuchen, ihn zu überreden«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Er war dieser Anregung nicht zugänglich.«

»Zweitens, Sie haben sich ebenfalls verpflichtet, Informationen über Umtriebe und Mitglieder revanchistischer sowjetfeindli­cher Emigrantengruppen zu sammeln. Sie haben zwei völlig wertlose Berichte geliefert, und dann nichts mehr. Warum?« »Mein Mann verachtete derartige Gruppen und hatte den Kon­takt mit ihnen abgebrochen.«

»Sie hätten auch ohne ihn in diesen Gruppen verkehren können. Sie haben sich schriftlich verpflichtet und die Verpflichtung nicht eingehalten. Ja oder nein?«

»Ja.«

»Und dafür lassen Sie Ihr Kind in Rußland zurück? Bei einem Juden? Um sich einem Volksfeind und Landesverräter zu wid­men? Dafür vernachlässigen Sie Ihre Pflicht? Überschreiten Sie die genehmigte Frist, bleiben Sie in Frankreich?«

»Mein Mann lag im Sterben. Er brauchte mich.«

»Und das Kind Alexandra? Es brauchte Sie nicht? Ist ein ster­bender Mann wichtiger als ein lebendes Kind? Ein Verräter? Ein Verschwörer gegen das Volk?«

Die Ostrakowa ließ ihr Gelenk los, griff entschlossen nach dem Tee und verfolgte das Glas mit der obenauf schwimmenden Zi­tronenscheibe auf dem Weg zu ihrem Mund. Über das Glas hin­weg sah sie einen schmierigen Mosaikboden, und jenseits davon das geliebte, grimmig-freundliche Gesicht Glikmans, das sich über sie neigte, sie aufforderte, zu unterzeichnen, wegzugehen, alles zu schwören, was »sie« verlangten. Die Freiheit für einen ist mehr als die Sklaverei für drei, hatte er geflüstert; ein Kind von Eltern wie wir hat keine Chance in Rußland, ob du nun bleibst oder gehst; geh, und wir werden versuchen, nachzukommen; unterschreibe alles, reise ab und lebe für uns alle; wenn du mich liebst, dann geh . . .

»Damals waren die Zeiten immer noch hart«, sagte sie schließlich zu dem Fremden, als beschwöre sie Erinnerungen herauf. »Sie sind zu jung. Die Zeiten waren hart, selbst nach Stalins Tod: immer noch hart.«

»Schreibt der kriminelle Glikman weiterhin an Sie?« fragte der Fremde in überlegenem und wissendem Ton.

»Er hat nie geschrieben«, log sie. »Wie konnte er schreiben, als Dissident unter Hausarrest? Die Entscheidung, in Frankreich zu bleiben, habe ich allein getroffen.«

Schwärz dich an, dachte sie; tu alles, um die zu schonen, die in »ihrer« Gewalt sind.

»Ich habe von Glikman nichts gehört, seit ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Frankreich kam«, fügte sie, wieder Mut fassend, hinzu. »Auf indirektem Weg habe ich erfahren, daß er über mein antisowjetisches Verhalten erzürnt war. Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Im Grunde wollte er schon damals, als ich ihn verließ, wieder einschwenken.«

»Hat er nie wegen Ihres gemeinsamen Kindes geschrieben?«

»Er hat weder geschrieben, noch Botschaften übermitteln lassen. Wie schon gesagt.«

»Wo ist Ihre Tochter jetzt?«

»Weiß ich nicht.«

»Haben Sie keine Nachricht von ihr bekommen?«

»Natürlich nicht. Ich habe nur gehört, sie sei in ein staatliches Waisenhaus gekommen und habe einen anderen Namen erhal­ten. Vermutlich weiß sie nichts von meiner Existenz.«

Der Fremde aß wieder mit einer Hand, während er in der ande­ren das Notizbuch hielt. Er schaufelte ein, mampfte ein bißchen und spülte dann das Essen mit dem Bier hinunter, ohne sein überlegenes Lächeln zu verlieren.

»Und jetzt ist auch der kriminelle Glikman tot«, gab der Fremde schließlich sein kleines Geheimnis preis. Wobei er weiteraß. Plötzlich wünschte sich die Ostrakowa, die zwanzig Jahre möchten zweihundert sein. Sie wünschte sich, Glikmans Gesicht hätte nie auf sie herabgesehen, sie hätte ihn nie geliebt, nie für ihn gesorgt, nie Tag um Tag für ihn gekocht oder sich mit ihm be­trunken, in seinem Einzimmer-Exil, wo sie von der Mildtätig­keit ihrer Freunde lebten, ohne das Recht auf Arbeit, ohne das Recht auf irgendetwas außer Musik hören und einander lieben, sich betrinken, in den Wäldern umherschweifen und sich von den Nachbarn die kalte Schulter zeigen lassen.