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»Von wem war er?«

Mikhel antwortete, wie so oft, ganz leicht daneben.

»Er war aus Paris, Max, ein langer Brief, viele Seiten, handge­schrieben. An den General persönlich adressiert, nicht an Miller. An General Wladimir, streng persönlich. Auf dem Umschlag stand geschrieben: >streng persönlich<, auf französisch. Ich sperr den Brief in meinen Schreibtisch, und um elf Uhr kommt er wie immer daher: >Mikhel, ich grüße Sie.< Manchmal, glauben Sie mir, salutierten wir sogar voreinander. Ich geb ihm den Brief, er setzt sich« - er deutete in Elviras Richtung -, »er setzt sich da hinten hin, öffnet ihn ganz lässig, als erwarte er sich nichts da­von, und ich sehe, wie der Brief ihn zunehmend beschäftigt. Ge­fangen nimmt. Ich möchte sagen, fasziniert. Ja, sogar aufwühlt. Ich spreche ihn an. Er antwortet nicht. Ich versuche es noch­mals. - Sie kennen ja seine Art - er ignoriert mich völlig. Er geht weg auf einen Spaziergang. >Ich komme wieder<, sagt er.«

»Und nahm den Brief mit?«

»Natürlich. Wenn er ein großes Problem im Kopf wälzte, dann machte er immer einen Spaziergang. Wie er wiederkommt, bemerkte ich eine tiefe Erregung an ihm. Eine Spannung. >Mikhel.< Sie wissen ja, wie er sprach. Alles hört auf mein Kommando. >Mikhel, schalten Sie den Fotokopierer an. Legen Sie Papier für mich ein. Ich muß ein Schriftstück ablichten.< Ich frag ihn, wie oft. >Einmal<. Ich frag ihn, wieviele Blätter. >Sieben. Bitte halten Sie sich in fünf Schritten Entfernung, während ich den Apparat bediene<, sagt er zu mir. >Ich kann Sie in diese Sache nicht mit hineinziehen.<«

Wieder deutete Mikhel auf die Stelle, als beweise sie die absolute Wahrheit seiner Geschichte. Der schwarze Fotokopierer stand auf einem eigenen Tisch, wie eine alte Dampfmaschine, mit Rol­len und mit Löchern zum Eingießen der verschiedenen Chemi­kalien. »Der General war technisch unbegabt. Ich schalte die Maschine für ihn ein, stelle mich dann - so - hier hin und rufe ihm meine Anweisungen durch den Raum zu. Wie er fertig ist, beugt er sich über die Kopien, während sie trocknen, faltet sie zusammen und steckt sie ein.«

»Und das Original?«

»Steckt er auch ein.«

»Sie haben also den Brief nie gelesen?« sagte Smiley im Ton leich­ten Bedauerns.

»Nein, Max. Tut mir leid, habe ich nicht.«

»Aber Sie haben den Umschlag gesehen. Sie hatten den Brief ja hier für ihn verwahrt, bis er kam.«

»Sagte ich Ihnen schon, Max. Er war aus Paris.«

»Welches Arrondissement?«

Wieder das Zögern.

»Das fünfzehnte«, sagte Mikhel. »Ich glaube, es war das fünf­zehnte. Wo immer viele unserer Leute gewohnt haben.«

»Und das Datum. Könnten Sie das näher präzisieren? Sie sagten, vor etwa zwei Monaten.«

»Anfang September. Ich würde sagen, Anfang September. Mög­licherweise Ende August. Vor rund sechs Wochen.«

»Die Adresse auf dem Umschlag war auch mit der Hand ge­schrieben?«

»Richtig, Max. Richtig.«

»Welche Farbe hatte der Umschlag?«

»Braun.«

»Und die Tinte?«

»Blau, nehme ich an.«

»War er versiegelt?«

»Wie bitte?«

»War der Umschlag mit Wachs oder mit einem Klebeband ver­siegelt? Oder war er nur auf die übliche Art zugeklebt?«

Mikhel zuckte die Achseln, als seien derartige Details unter sei­ner Würde.

»Aber der Absender war vermutlich außen angegeben?« be­harrte Smiley leichthin.

Wenn dem so war, dann gab Mikhel es nicht zu.

Einen Augenblick ließ Smiley seine Gedanken zu dem braunen Umschlag in der Herrentoilette des Savoy abschweifen und zu dem leidenschaftlichen Hilferuf, den er enthielt.

Heute morgen hatte ich den Eindruck, sie versuchten, mich um­zubringen. Könnten Sie mir nicht nochmals Ihren Freund, den Magier schicken? Poststempel Paris, dachte er. Fünfzehntes Ar­rondissement. Nach dem ersten Brief gab Wladimir dem Schrei­ber seine Privatadresse, dachte er. So wie er Willem seine private Telefonnummer gegeben hatte. Nach dem ersten Brief wollte er Mikhel umgehen.

Das Telefon läutete. Mikhel meldete sich sofort mit einem kur­zen >Ja< und hörte dann zu.

»Dann fünf auf beide«, murrte er und legte mit herrischer Würde wieder auf.

Je mehr er sich dem Hauptzweck seines Besuchs näherte, desto behutsamer ging Smiley zu Werk. Mikhel hatte vor seinem Ein­tritt in die Pariser Gruppe die Hälfte aller Verhörzentren Osteu­ropas von Innen kennengelernt, und Smiley erinnerte sich, daß er immer dann auf stur schaltete, wenn man ihm zusetzte, eine Eigenheit, durch die er seinerzeit die Sarratt-Inquisitoren bei­nahe in den Wahnsinn getrieben hätte.

»Darf ich Sie etwas fragen, Mikhel?« sagte Smiley und wählte ei­nen Annäherungsweg, der schräg zur Hauptbohrrichtung ver­lief.

»Bitte sehr«.

»An dem Abend, als er hierher kam, um sich Geld von Ihnen zu leihen: Ist er da geblieben? Haben Sie ihm Tee gemacht? Viel­leicht eine Partie Schach mit ihm gespielt? Könnten Sie diesen Abend ein bißchen für mich ausmalen?«

»Wir haben Schach gespielt, aber unkonzentriert. Er war in Ge­danken, Max.«

»Hat er noch etwas über den großen Fisch gesagt?«

Die halb geschlossenen Augen sahen ihn seelenvoll an.

Wie bitte, Max?«

»Der große Fisch. Der Coup, den er, wie er sagte, plante. Hat er sich weiter darüber ausgelassen?«

»Nichts. Überhaupt nichts. Kein Sterbenswörtchen.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß ein anderes Land im Spiel war?« »Er sprach nur davon, daß er keinen Paß habe. Es hat ihn ge­kränkt - Max, ich muß es Ihnen ehrlich sagen -, es hat ihn ver­letzt, daß der Circus ihm keinen Paß mehr ausstellen lassen woll­te. Nach all den Diensten, all der Hingabe - er war verletzt.« »Es war zu seinem eigenen Besten, Mikhel.«

»Max, ich verstehe vollkommen. Ich bin jünger, ein Mann von heute, anpassungsfähig. Der General war zuweilen impulsiv, Max. Vorkehrungen mußten getroffen werden, manchmal sogar von denen, die ihn bewunderten, um seinen Tatendrang zu bän­digen. Bitte. Aber für den Mann selbst war es unverständlich. Eine Schmach.«

Hinter sich hörte Smiley Getrampel, als Elvira verächtlich in ihre Ecke zurückstapfte.

»Wer, glauben Sie, sollte die Reise für ihn machen?« fragte Smi­ley und nahm wieder keinerlei Notiz von ihr.

»Willem«, sagte Mikhel mit offensichtlicher Mißbilligung. »Er sagte es mir nicht ausdrücklich, aber ich glaube, er schickte Wil­lem. Das war mein Eindruck. Daß Willem fahren würde. General Wladimir sprach sehr stolz von Willems Jugend und Ehrge­fühl. Auch von seinem Vater. Er stellte sogar einen historischen Bezug her. Er sprach davon, daß man die neue Generation ein­setzen solle, um das Unrecht der alten wieder gutzumachen. Er war sehr bewegt.«

»Wo hat er ihn hingeschickt? Hat Wladi irgendeine Anspielung darauf gemacht?«

»Er sagt es mir nicht. Er sagt nur zu mir: >Willem hat einen Paß, er ist ein braver Junge, ein guter Balte, seriös, er kann reisen, aber man muß ihn auch beschützen.< Ich bohre nicht. Ich dränge nicht. Das ist nicht meine Art, Max. Sie wissen das.«

»Aber Sie haben sich doch eine Meinung gebildet, nehme ich an«, sagte Smiley. »Wie man das eben so tut. Schließlich konnte Willem ja nicht x-beliebig wohin fahren. Schon gar nicht mit fünfzig Pfund. Und da war auch noch Willems Arbeit, nicht wahr. Ganz zu schweigen von seiner Frau. Er konnte nicht ein­fach ins Blaue fahren, wenn ihm danach war.«

Mikhel machte eine militärische Geste. Er schob die Lippen vor, bis sein Schnurrbart fast umgestülpt war und zupfte mit Daumen und Zeigefinger überlegend an der Nase. »Der General hat auch nach Karten gefragt. Ich war hin- und hergerissen, ob ich es Ih­nen sagen sollte. Sie sind sein Vikar, Max, aber Sie kämpfen nicht für unsere Sache. Da ich Ihnen aber vertraue, sage ich es Ihnen.«