»Was für Karten?«
»Straßenkarten.« Er holte mit einer Hand nach den Regalen aus, als befehle er ihnen, sich zu nähern. »Stadtpläne. Von Danzig. Hamburg. Lübeck. Helsinki. Die Nordseeküste. Ich frage ihn: >General, Sir, lassen Sie mich Ihnen helfen<, sagte ich zu ihm. >Bitte. Ich bin Ihr Assistent für alles. Ich habe ein Recht darauf. Wladimir. Lassen Sie mich Ihnen helfen.< Er lehnte ab. Er wollte völlig für sich allein sein.«
Moskauer Regeln, dachte Smiley wieder. Viele Karten und nur eine von ihnen ist die richtige. Und wieder tat Wladimir alles, um seine Absichten vor seinem vertrauenswürdigen Pariser Adjutanten zu verschleiern.
»Worauf er dann ging?« fragte Smiley.
»Richtig.«
»Um wieviel Uhr?«
»Es war spät.«
»Können Sie sagen, wie spät?«
»Zwei. Drei. Vielleicht sogar vier. Ich bin nicht sicher.«
Smiley spürte, wie Mikhels Blick millimeterweise an ihm hoch und über seine Schulter glitt und hinter ihm verweilte, und ein Instinkt, der ihn zeitlebens nie im Stich gelassen hatte, ließ ihn die Frage stellen:
»Ist Wladimir allein hierher gekommen?«
»Natürlich, Max. Wen hätte er mitbringen sollen?«
Sie wurden durch ein Klirren von Geschirr unterbrochen, als Elvira am anderen Ende des Raums wieder gewichtig zur Erfüllung ihrer Pflichten schritt. Smiley wagte nun einen Blick auf Mikhel und sah, wie er ihr mit einem Ausdruck nachstarrte, den er für den Bruchteil einer Sekunde erkannte, aber nicht einordnen konnte: hoffnungslos und liebevoll zugleich, zwischen Abhängigkeit und Abneigung. Bis Smiley schließlich erkannte, daß er mit krankhaftem Mitgefühl in sein eigenes Gesicht starrte, wie es ihn zu oft mit rot geränderten Augen aus den hübschen, goldgerahmten Spiegeln Anns in der Bywater Street angesehen hatte. »Wenn er sich also nicht von Ihnen helfen lassen wollte, was haben Sie dann getan?« fragte Smiley mit beflissener Beiläufigkeit. »Sind Sie aufgeblieben und haben gelesen - Schach gespielt mit Elvira?«
Mikhels braune Augen ruhten einen Augenblick auf ihm, glitten ab, kamen wieder zu ihm zurück.
»Nein, Max«, antwortete er äußerst höflich. »Ich hab ihm die Karten gegeben. Er wollte mit ihnen allein sein. Ich wünschte ihm gute Nacht. Als er ging, schlief ich schon.«
Doch Elvira ganz offensichtlich nicht, dachte Smiley.
Elvira blieb und wartete auf Instruktionen von ihrem Vize-Bruder. Aktiv als Patriot, als Mann, als Führer, memorierte Smiley. Aktiv in jeder Beziehung.
»Und welchen Kontakt hatten Sie mit ihm seitdem?« fragte Smiley, und Mikhel war plötzlich bei gestern angekommen. »Keinen bis gestern«, sagte Mikhel.
»Gestern nachmittag hat er mich angerufen. Max, ich schwöre Ihnen, ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr so aufgeregt gehört. Glücklich, ich würde sagen, ekstatisch. >Mikhel! Mikhel!< Max, der Mann war verzückt. Er würde am Abend zu mir kommen. Gestern abend. Spät möglicherweise, aber er wird mir die fünfzig Pfund bringen. >General<, sag ich zu ihm. >Was sind schon fünfzig Pfund? Sind Sie wohlauf? Sind Sie in Sicherheit? Erzählen Sie mir.< >Mikhel; ich war auf Fischfang, und ich bin glücklich. Bleiben Sie wach<, sagt er zu mir. >Ich bin um elf Uhr bei Ihnen, oder kurz danach. Mit dem Geld. Ich muß Sie auch im Schach schlagen, um meine Nerven zu beruhigen.< Ich bleibe wach, mache Tee, warte auf ihn. Max, ich bin Soldat, um mich habe ich keine Angst. Aber um den General, um diesen alten Mann hatte ich Angst. Ich rufe den Circus an, ein Notfall. Sie haben einfach eingehängt. Warum, Max? Warum haben Sie das getan, bitte?«
»Ich hatte nicht Dienst«, sagte Smiley und sah Mikhel jetzt so scharf an, wie er es irgend wagte. »Sagen Sie, Mikhel«, begann er.
»Max.«
»Was wollte Wladimir Ihrer Ansicht nach tun, nachdem er bei Ihnen angerufen hatte, um von der guten Nachricht zu sprechen und bevor er kommen würde, um die fünfzig Pfund zurückzuzahlen?«
Mikhel zögerte nicht. »Ich habe selbstverständlich angenommen, daß er zu Max gehen würde«, sagte er. »Er hatte seinen großen Fisch gelandet. Jetzt würde er zu Max gehen, seine Spesen verlangen, ihn mit der sensationellen Neuigkeit überraschen. Selbstverständlich«, wiederholte er und schaute Smiley ein bißchen zu fest in die Augen.
Selbstverständlich, dachte Smiley. Und du hast auf die Minute genau gewußt, wann er von zu Hause fortgehen würde und auf den Meter genau den Weg gekannt, den er nehmen würde, um zu der sicheren Wohnung in Hampstead zu gehen.
»Er kam also nicht, Sie riefen den Circus an, und wir haben Sie abblitzen lassen«, faßte Smiley kurz zusammen.
»Tut mir leid. Was haben Sie als nächstes getan?«
»Ich rufe Willem an. Ich wollte mich zunächst vergewissern, daß der Junge wohlauf war und ihn auch fragen: Wo ist unser Führer? Seine englische Frau hat mich angeschnauzt. Schließlich bin ich zu seiner Wohnung gegangen. Nicht gern - es war aufdringlich -, sein Privatleben geht niemand etwas an - aber ich bin hingegangen. Ich habe geläutet. Keine Antwort. Ich ging wieder nach Hause. Heute vormittag um elf ruft Jüri an. Ich hatte die Frühausgabe der Abendzeitungen nicht gelesen, ich bin kein Freund von englischen Zeitungen. Jüri hatte sie gelesen. Wladimir, unser Führer, war tot«, endete er.
Elvira stand neben ihm. Sie hatte zwei Gläser mit Wodka auf einem Tablett.
»Bitte«, sagte Mikhel. Smiley nahm ein Glas, Mikhel das andere. »Auf das Leben!« sagte Mikhel sehr laut und trank, während ihm die Tränen in die Augen schossen.
»Auf das Leben«, sagte Smiley, während Elvira sie beide beobachtete.
Sie ist mit ihm hingegangen, dachte Smiley. Sie hat Mikhel gezwungen, zur Wohnung des alten Mannes zu gehen, sie hat ihn bis vor seine Türe gezerrt.
»Haben Sie jemand anderem davon erzählt, Mikhel?« fragte Smiley, als sie wieder einmal wegging.
»Jüri traue ich nicht«, sagte Mikhel und schneuzte sich.
»Haben Sie Jüri von Willem erzählt?«
»Wie bitte?«
»Haben Sie ihm gegenüber Willem erwähnt? Haben Sie Jüri gegenüber durchblicken lassen, daß Willem in irgendeiner Weise mit Wladimir zu tun gehabt haben könnte?«
Mikhel hatte anscheinend keine dieser Sünden begangen.
»In dieser Sache sollten Sie niemandem trauen«, sagte Smiley in förmlicherem Ton, als er sich anschickte zu gehen. »Nicht einmal der Polizei. So lautet die Order. Die Polizei darf nicht erfahren, daß Wladimir bei einem Einsatz gestorben ist. Das ist wichtig für die Sicherheit. Die Ihre und die unsere. Sonst hat er Ihnen keine Botschaft übermittelt? Eine Nachricht für Max, zum Beispiel?«
Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann, dachte er.
Mikhel lächelte bedauernd.
»Hat Wladimir kürzlich Hector erwähnt?«
»Für ihn taugte Hector nichts.«
»Hat Wladimir das gesagt?«
»Bitte, Max. Ich habe nichts persönlich gegen Hector. Hector ist Hector, er ist kein Gentleman, aber in unserer Branche müssen wir viele Arten und Abarten von Menschen verwenden. Ich gebe nur die Meinung des Generals wieder. Unser Führer war ein alter Mann. >Hector<, sagt Wladimir zu mir, >Hector taugt nichts. Unser guter Postbote Hector ist wie die City-Banken. Wenn es regnet, heißt es, nehmen einem die Banken den Schirm weg. Unser Postbote Hector ist wie sie.< Bitte. Das sagt Wladimir. Nicht Mikhel. >Hector taugt nichts.<«
»Wann hat er das gesagt?«