Выбрать главу

Nachdem der Abzug nun sicher vor dem Kamin hing, ging Smi­ley zu dem hübschen eingelegten Schreibtisch, in dem Ann ihre »Sachen« mit peinlicher Offenheit verwahrte. Zum Beispiel ei­nen Bogen Briefpapier, auf den sie nur das eine Wort »Darling« geworfen hatte, weiter nichts, vielleicht unschlüssig, an welchen Darling sie schreiben sollte. Zum Beispiel Zündholzbriefchen aus Restaurants, in denen er nie gewesen war, und Briefe in einer Handschrift, die er nicht kannte. Aus diesem verwirrenden Durcheinander fischte er eine große viktorianische Lupe mit Perlmuttgriff, die Ann zur Entzifferung der Auflösungen von nie ganz ausgefüllten Kreuzworträtseln benutzte. Derart ausge­rüstet - die Abfolge dieser Handlungen ermangelte aufgrund seiner Müdigkeit der absoluten Logik - legte er eine Mahler-Platte auf, die Ann ihm geschenkt hatte, und setzte sich in den Ledersessel, an dem ein Lesepult aus Mahagoni befestigt war, das man wie ein Bett-Tablett vor den Magen schwenken konnte. Unvorsichtigerweise schloß er die Augen, während er teils auf die Musik, teils auf das Platsch-Platsch des tröpfelnden Fotos und teils auf das unwillige Knistern des Feuers lauschte. Als er dreißig Minuten später hochfuhr, war der Abzug trocken, und der Mahler drehte sich stumm auf dem Plattenteller.

Er starrte auf das Bild, wobei er eine Hand an die Brille legte und mit der anderen die Lupe langsam über dem Abzug kreisen ließ. Es war ein Gruppenbild, aber es handelte sich um nichts Politi­sches und auch nicht um eine Badepartie, denn niemand trug Ba­dekleidung. Die Gruppe bestand aus einem Quartett, zwei Da­men, zwei Herren, und sie lagerten auf Polstersofas um einen niedrigen, mit Zigaretten und Flaschen beladenen Tisch. Die Damen waren nackt und jung und hübsch. Die Herren, die kaum besser bedeckt waren, lagen nebeneinander, und die Mädchen hatten sich pflichtschuldigst um ihren Erwählten geschlungen. Das Licht auf dem Foto war fahl und unirdisch, und kraft der ge­ringen Kenntnisse, die er auf diesem Gebiet besaß, schloß Smi­ley, daß zur Aufnahme ein hochempfindlicher Film verwendet worden war, denn der Abzug war körnig. Die Oberflächen­struktur erinnerte ihn, wenn er es sich recht überlegte, an Auf­nahmen von Terroristen-Geiseln, nur daß die Vier auf dem Bild miteinander beschäftigt waren, während Geiseln immer in die Linse starren wie in einen Gewehrlauf. Auf der Suche nach dem, was er operative Information genannt haben würde, versuchte er, die vermutliche Stellung der Kamera auszumachen und kam zu der Annahme, daß sie sich hoch über den Akteuren befunden haben mußte. Die Vier schienen in der Mitte einer Grube zu lie­gen, unter dem Auge der Kamera, die auf sie herabblickte. Ein sehr dunkler Schatten - eine Balustrade, ein Fenstersims oder vielleicht auch nur die Schulter von irgendjemandem - verdeckte einen Teil des Vordergrunds. Als habe trotz des günstigen stra­tegischen Punkts nur die Hälfte des Objektivs es gewagt, über die Sichtlinie zu linsen.

Hier versuchte Smiley seine erste Schlußfolgerung. Ein Schritt - kein großer, aber er hatte sich bereits genug große Schritte im Geist zurechtgelegt. Nennen wir es einen techni­schen Schritt: einen bescheidenen technischen Schritt. Das Bild trug alle Anzeichen dessen, was man in einschlägigen Kreisen ein Meuchelfoto nannte. Meuchlings aufgenommen mit der Absicht, jemanden zu verbrennen, das heißt zu er­pressen. Aber wen erpressen? Und wozu? Während er darüber nachdachte, schlief Smiley wahrschein­lich ein. Das Telefon stand auf Anns kleinem Schreibtisch, und es mußte drei- oder viermal geklingelt haben, ehe er es hörte.

»Ja, Oliver?« sagte Smiley vorsichtig.

»Endlich, George. Hab's schon früher versucht. Gut zurückge­kommen, nehme ich an?«

»Von wo?« fragte Smiley.

Lacon geruhte darauf nicht zu antworten. »Hatte das Gefühl, Ihnen einen Anruf schuldig zu sein. Wir trennten uns ein biß­chen mißgestimmt. Ich war schroff. Zuviel auf dem Hals. Bitte um Entschuldigung. Wie steht's? Total erledigt? Fertig?«

Im Hintergrund hörte Smiley Lacons Töchter darüber zanken, wieviel Miete für ein Hotel an der Parkallee zu zahlen sei. Er hat sie übers Wochenende zu Hause, dachte Smiley.

»Hatte das Innenministerium wieder an der Strippe, George«, fuhr Lacon leiser fort, ohne auf Smileys Antwort zu warten. »Der gerichtsmedizinische Befund liegt vor, die Leiche kann freigegeben werden. Baldige Einäscherung wird empfohlen. Ich dachte, wenn ich Ihnen den Namen des Bestattungsinstituts mit­teile, können Sie ihn an die Betroffenen weitergeben. Ohne Quellenangabe, versteht sich. Haben Sie die Pressemeldung ge­sehen? Mir schien sie gekonnt. Schien mir genau den richtigen Ton zu treffen.«

»Ich hol mir einen Stift«, sagte Smiley und fummelte wieder in der Schublade herum, bis er ein birnenförmiges Plastikgebilde mit Lederriemen fand, das Ann manchmal um den Hals trug. Er bekam es mit einiger Mühe auf und schrieb nach Lacons Diktat:

Firmenname, Adresse, nochmals Firmenname und wiederum die Adresse.

»Haben Sie's? Soll ich wiederholen? Oder lesen Sie es mir noch­mals vor, von wegen doppelt genäht hält besser?«

»Ich glaube, ich hab's mitgekriegt, vielen Dank«, sagte Smiley. Etwas verspätet dämmerte ihm, daß Lacon betrunken war.

»George, wir haben eine Verabredung, vergessen Sie's nicht. Ein Seminar über die Ehe, bei dem alle Griffe erlaubt sind. Ich hab Sie zu meinem Guru ausersehen. Da ist ein nicht unübles Steak-House gleich um die Ecke, und ich werde Ihnen ein gepfleg­tes Dinner auffahren lassen, während Sie mir etwas von Ihrer Weisheit abgeben. Haben Sie einen Terminkalender zur Hand? Tragen wir doch gleich was ein.«

Voll düsterer Vorahnungen machte Smiley ein Datum fest. Nach­dem er ein Leben lang Legenden für jede Gelegenheit erfunden hatte, war er immer noch außerstande, sich aus einer Dinner - Ein­ladung herauszureden.

»Und Sie haben nichts gefunden?« fragte Lacon, jetzt wieder in leiserem Ton. »Keinen Haken? Keinen Wurm? Keinen dicken Hund? War ein Sturm im Wasserglas, wie wir vermuteten, nicht wahr?«

Eine Menge Antworten kamen Smiley in den Sinn, aber er erach­tete sie alle für zwecklos.

»Was ist mit der Telefonrechnung?« frage Smiley.

»Telefonrechnung? Welche Telefonrechnung? Ah, Sie meinen seine. Bezahlen Sie, und schicken Sie mir die Quittung. Kein Pro­blem. Noch besser, schicken Sie die Rechnung an Strickland.«

»Ich habe Sie Ihnen bereits zugesandt«, sagte Smiley geduldig.

»Ich bat Sie, die nachprüfbaren Anrufe aufschlüsseln zu lassen.«

»Werde mich sofort darum kümmern«, antwortete Lacon leutse­lig. »Sonst noch was?«

»Nein. Nein, ich glaube nicht. Sonst nichts.«

»Legen Sie sich ein bißchen aufs Ohr. Sie klingen ganz erschos­sen.«