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» Gute Nacht«, sagte Smiley.

Mit Anns Lupe in der drallen Hand machte Smiley sich von neuem an die Untersuchung des Bildes. Der Boden der Grube war mit einem anscheinend weißen Teppich ausgelegt; die Sofas standen im Halbrund vor der Stoffbespannung, die das Gesichts­feld abschloß. Im Hintergrund sah man eine Polstertür, und daran hingen die abgelegten Kleidungsstücke der Männer - Jac­ken, Krawatten, Hosen -, so ordentlich wie in einem Spitalzim­mer. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher, und Smiley ver­suchte, die Aufschrift auf dem Rand zu entziffern. Nach vielem Hin- und Hergeschiebe der Lupe fand er schließlich, was der verhinderte Philologe in ihm als die erschlossene (putative) Buchstabengruppe »A-C-H-T« bezeichnete. Er konnte jedoch nicht sagen, ob es sich dabei um das deutsche Zahlwort handelte oder um vier Buchstaben eines längeren Worts, zum Beispiel des Worts »Achtung«. Er stellte in diesem Stadium auch keine weite­ren Spekulationen an, sondern speicherte einfach die Nachricht in einer rückwärtigen Zelle seines Gedächtnisses, solange, bis ir­gendein weiteres Teilstück des Puzzles zwangsläufig die richtige Plazierung ergeben würde.

Ann rief an. Er mußte wieder einmal eingedöst sein, denn er er­innerte sich später nicht daran, das Klingeln des Telefons gehört zu haben, nur ihre Stimme, als er langsam den Hörer ans Ohr ge­hoben hatte: »George, George«, als ob sie schon eine ganze Weile nach ihm gerufen und er sich erst jetzt aufgerafft oder be­quemt hätte, ihr zu antworten.

Sie begannen ihr Gespräch wie zwei Fremde, so, wie sie sich im Bett einander näherten.

»Wie geht es dir?« fragte sie.

»Danke, gut, sehr gut. Und dir? Was kann ich für dich tun?« »Ich möchte es wirklich wissen«, beharrte Ann. »Wie geht es dir? Sag.«

»Ich sagte doch schon: gut.«

»Ich habe heute Vormittag angerufen. Warum hast du dich nicht gemeldet?«

»Ich war aus.«

Lange Pause, während sie die fadenscheinige Begründung zu werten schien. Das Telefon hatte sie nie zur Eile angestachelt.

»Aus, beruflich?«

»Eine Verwaltungssache für Lacon.«

»Der fängt aber neuerdings früh mit dem Verwalten an.«

»Seine Frau hat ihn verlassen«, sagte Smiley als Erklärung.

Keine Antwort.

»Du hast immer gesagt, daß sie das tun sollte«, fuhr er fort. »Sie solle zusehen, daß sie da rauskomme, hast du gesagt, bevor sie ebenfalls zur Beamten-Geisha würde.«

»Ich habe es mir überlegt. Er braucht sie.«

»Aber sie braucht ihn offenbar nicht«, beschied Smiley sie in ge­wollt lehrhaftem Ton.

»Dummes Weib«, sagte Ann, und es folgte eine weitere Pause, die diesmal auf Smileys Konto ging, denn er mußte über den un­versehends aufgetauchten Berg von Möglichkeiten nachdenken, vor den sie ihn gestellt hatte.

Wieder Zusammensein, wie sie es manchmal nannte. Die Wunden vergessen, die Liste von Liebhabern; Bill Haydon vergessen, den Circus-Verräter, dessen Schatten noch immer über ihr Gesicht fiel, sooft er die Arme nach ihr ausstreckte, des­sen Andenken er wie einen ständigen Schmerz in sich trug. Bill, seinen Freund, Bill, die Blüte der ganzen Generation, den Spaß­macher, den Charmeur, den bilderstürmenden Konformisten; Bill, den geborenen Betrüger, den die Suche nach dem höchsten Treuebruch ins Bett der Russen und in Anns Bett geführt hatte. Die Flitterwochen neu auflegen, fortfliegen nach Südfrankreich, Spezialitäten essen, Kleider kaufen, den ganzen Zauber aufzie­hen, den Liebende sich vorspielen. Und für wie lange? Wie lange würde es dauern, bis ihr Lächeln dahinschwinden, ihre Augen den Glanz verlieren und diese mythischen Verwandten sie wie­der zu sich rufen würden, damit sie ihre mythischen Gebrechen in weit entlegenen Orten pflege?

»Wo bist du?« fragte er.

»Bei Hilda.«

»Ich dachte, du seist in Cornwall.«

Hilda war eine geschiedene Frau, die ein flottes Leben führte. Sie wohnte in Kensington, knappe zwanzig Minuten zu Fuß ent­fernt.

»Und wo ist Hilda?«

»Ausgegangen.«

»Die ganze Nacht?«

»Wie ich Hilda kenne, ja. Es sei denn, sie bringt ihn in die Woh­nung.«

»Nun, dann mußt du dich wohl ohne sie amüsieren, so gut du kannst«, sagte er, doch noch während er sprach, hörte er sie flü­stern: »George.«

Eine tiefe und heftige Furcht griff nach Smileys Herz. Er starrte durch das Zimmer auf den Lesesessel und sah den Kontaktabzug immer noch auf dem Bücherpult neben ihrer Lupe; in einer ein­zigen Aufwallung der Erinnerung beschwor er all die Dinge, die ihn diesen ganzen endlosen Tag hindurch bedrängt und auf ihn eingeflüstert hatten; er hörte die Trommelschläge seiner eigenen Vergangenheit, die ihn aufforderten, in einer letzten Anstren­gung den Konflikt, den er so lange in sich getragen hatte, nach außen zu kehren und zu lösen. Dabei wollte er sie nicht in der Nähe haben. Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann. Mit einer Klarheit, wie sie nur Hunger, Müdigkeit und Verzweiflung ver­leihen, erkannte Smiley, daß sie keinen Anteil an dem haben durfte, was er tun mußte. Wenn er auch erst an der Schwelle stand, so wußte er doch, daß ihm in seinen alten Tagen wider al­les Erwarten die Chance geboten wurde, auf alle die abgeblase­nen Kämpfe seines Lebens zurückzukommen und sie schließlich doch noch auszutragen. Wenn dem so war, dann sollte keine Ann, kein falscher Friede, kein befangener Zeuge seiner Taten ihn bei seiner einsamen Suche stören. Er hatte bis jetzt seinen Weg nicht gekannt. Nun kannte er ihn.

»Auf keinen Fall«, sagte er. »Du darfst auf keinen Fall hierher­kommen. Es hat nichts mit grundsätzlichen Entscheidungen zu tun, nur mit praktischen Erwägungen. Du darfst nicht hierher­kommen.« Seine eigenen Worte schienen ihm einen merkwürdi­gen Klang zu haben.

»Dann komm du hierher«, sagte sie.

Er legte auf. Jetzt würde sie wohl in Tränen ausbrechen, dann nach dem Adressenbüchlein greifen, nachsehen, wer aus der Ersten Elf, wie sie sich ausdrückte, sie an seiner Stelle trösten könne. Er schenkte sich einen strammen Whisky ein, Lacons Pa­tentrezept. Er ging in die Küche, vergaß warum, wanderte in sein Arbeitszimmer. Soda, dachte er. Zu spät. Dann eben ohne. Ich muß verrückt geworden sein, dachte er. Ich jage Gespenstern nach, es steckt nichts dahinter. Ein seniler General hat einen Traum geträumt und ist dafür gestorben. Er erinnerte sich an ei­nen Ausspruch Oscar Wildes: Daß ein Mensch für eine Sache stirbt, heiligt nicht die Sache. Ein Bild hing schief. Er rückte dar­an, zu viel, zu wenig, trat dabei jedesmal ein wenig zurück. Sa­gen Sie Max, es betrifft den Sandmann. Er ging wieder zum Le­sesessel und fixierte seine zwei Prostituierten durch Anns Lupe mit einem Ingrimm, vor dem sie, hätten sie ihn sehen können, schreiend zu ihren Mackern geflüchtet wären.

Sie gehörten eindeutig zur Spitzenklasse ihrer Zunft, sie waren jung, wohlgestaltet und wohlgepflegt. Jemand schien sie - wenn es nicht purer Zufall war - wegen des Kontrastes ausgewählt zu haben, den sie bildeten. Das Mädchen zur Linken war blond und feingliedrig, von fast klassischem Wuchs, mit langen Ober­schenkeln und kleinen hohen Brüsten. Ihre Gefährtin dagegen war dunkelhaarig und gedrungen, mit ausladenden Hüften und breiten, vielleicht eurasischen Zügen. Die Blonde trug, wie er feststellte, ankerförmige Ohrringe, was ihm ungewöhnlich er­schien, denn nach seiner wenn auch beschränkten Erfahrung mit dem schwachen Geschlecht waren Ohrringe das erste, was Frauen ablegten. Ann brauchte nur ohne Ohrringe fortzugehen, und schon wurde ihm das Herz schwer. Sonst fiel ihm zu keinem der beiden Mädchen irgendetwas Schlaues ein, und so wandte er nach einem weiteren kräftigen Schluck Whisky pur seine Auf­merksamkeit wieder den Männern zu - denen sie, wenn er ehr­lich sein wollte, von Anfang an bei der Betrachtung des Bildes in erster Linie gegolten hatte. Wie die Mädchen, so unterschieden sich auch die Männer scharf voneinander, und bei ihnen kam hinzu, daß - da sie erheblich älter waren - die Unterschiede deut­licher hervortraten und die Charaktereigenschaften verrieten. Der Mann mit dem blonden Mädchen war hellhäutig und wirkte auf den ersten Blick stumpfsinnig, während der Mann mit der Schwarzen nicht nur dunkelhäutig war, sondern Züge von ro­manischer, ja, levantinischer Lebhaftigkeit besaß sowie ein an­steckendes Lächeln, das einzig Sympathische auf dem Foto. Der helle Mann war breit und unförmig, der dunkle Mann war klein und witzig genug, um sein Hofnarr zu sein: ein Kobold mit ei­nem freundlichen Gesicht und Haarbüscheln, die wie Hörner über den Ohren aufgezwirbelt waren.