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Eine plötzliche Nervosität - die sich später als so etwas wie eine Vorahnung erweisen sollte - veranlaßte ihn, sich zuerst den Hellhäutigen vorzunehmen. Es war eine Stunde, in der man sich bei Fremden sicherer fühlte.

Der Oberkörper des Mannes war robust, aber nicht durchtrai­niert, die Gliedmaßen schwer, ohne den Eindruck von Kraft zu vermitteln. Die Helle von Haut und Haaren betonte seine Be­leibtheit. Die Hände, von denen eine auf der Hüfte, die andere um die Taille des Mädchens lag, waren fett und plump. Smiley ließ die Lupe langsam über die nackte Brust zum Kopf hochglei­ten. Mit vierzig, hatte ein kluger Mann einmal drohend geschrie­ben, bekommt der Mensch das Gesicht, das er verdient. Smiley bezweifelte das. Er hatte empfindsame Seelen gekannt, die zu le­benslanger Haft hinter einer abstoßenden Fassade verdammt gewesen waren, und Verbrecher mit Engelsgesichtern. Wie auch immer, es war kein Schmuckstück von einem Gesicht, und die Kamera hatte es zudem nicht von seiner vorteilhaftesten Seite aufgenommen. Charakterlich schien es in zwei Teile zu zerfal­len: die untere Partie, die zu einem Grinsen fieser Hochstimmung verzogen war, während der Mann, wie der geöffnete Mund vermuten ließ, etwas zu seinem Gefährten sagte; die obe­re, die von zwei kleinen blassen Augen beherrscht wurde, in de­ren Winkeln weder Fröhlichkeit nistete noch eine Spur von Hochstimmung, und die mit der kalten Ungeniertheit eines Kin­des aus ihrem teigigen Umfeld blickten. Die Nase war platt, das Haar voll und der Schnitt mitteleuropäisch.

Gierig, würde Ann gesagt haben, die dazu neigte, ein absolutes Urteil über Leute zu fällen, deren Konterfei sie in der Zeitung ge­sehen hatte. Gierig, schwach, lasterhaft. Meiden. Nur schade, daß sie bei Haydon nicht zu demselben Schluß gekommen war, zumindest nicht rechtzeitig.

Smiley ging wieder in die Küche, benetzte sich das Gesicht, erin­nerte sich dann, daß er eigentlich Wasser für seinen Whisky hatte holen wollen. Er ließ sich wieder in dem Lesesessel nieder und schob die Lupe über den zweiten Mann, den Hofnarren. Der Whisky hielt ihn wach und machte ihn zugleich schläfrig. Warum rief sie nicht nochmals an? dachte er. Wenn sie nochmals anruft, geh ich zu ihr. Doch in Wirklichkeit war sein Denken ganz von diesem zweiten Gesicht in Anspruch genommen, weil die Vertrautheit darin ihn verwirrte, so wie der Ausdruck be­schwörender Komplizenschaft bereits Willem und die Ostra­kowa verwirrt hatte. Smiley betrachtete das Gesicht, und seine Müdigkeit schwand; er schien neue Kraft aus ihm zu schöpfen. Manche Gesichter sind uns, wie Willem an jenem Morgen gesagt hatte, bekannt, noch ehe wir sie sahen; andere sehen wir ein ein­ziges Mal und erinnern uns unser ganzes Leben lang an sie; wie­der andere sehen wir tagtäglich und erinnern uns überhaupt nie an sie. Zu welcher Kategorie gehörte dieses hier?

Ein Toulouse-Lautrec-Gesicht, dachte Smiley, als er es nach­denklich anlinste - festgehalten in dem Augenblick, in dem seine Augen gerade zu irgendeiner unwiderstehlichen, vielleicht eroti­schen Ablenkung hinüberglitten. Ann wäre sofort auf ihn geflo­gen; er hatte den gefährlichen Einschlag, den sie liebte.

Ein Toulouse-Lautrec-Gesicht, festgehalten, während der verirrte Strahl einer Rummelplatzbeleuchtung die eingefallene, ge­zeichnete Wange erhellte. Ein Gesicht, wie gemeißelt, voller Schroffen und Schrunde, über dessen Stirn, Nase und Backen­knochen die gleichen erodierenden Unwetter hinweggefegt wa­ren. Ein Toulouse-Lautrec-Gesicht, beweglich und anziehend. Das Gesicht eines Kellners, nicht das eines Gastes. Auf dem der Zorn des Kellners am hellsten lodert hinter einem dienernden Lächeln. Ann würde diese Seite weniger mögen. Smiley ließ den Abzug, wo er lag, rappelte sich langsam in die Höhe und stapfte, um sich wach zu halten, im Zimmer herum; versuchte, das Ge­sicht unterzubringen, konnte es nicht, fragte sich, ob alles nur Einbildung sei. Manche Menschen übertragen, dachte er. Man­chen Menschen braucht man nur zu begegnen, und schon über­reichen sie einem ihre ganze Vergangenheit wie ein Geschenk. Manche Menschen sind die verkörperte Intimität.

Er blieb an Anns Schreibtisch stehen und starrte wieder auf das Telefon. Ihr Telefon. Ihr und Haydons Telefon, ihr und jeder­manns Telefon. Trimline, dachte er. Oder war esSlimline? Fünf Pfund Zusatzgebühr für den zweifelhaften Luxus seiner altmo­disch-futuristischen Form. Mein Nuttentelefon, wie sie es im­mer nannte. Das kleine Ding-Dong für meine kleinen Lieben, das laute Bim-Bam für meine großen. Er konstatierte, daß es klingelte. Schon seit geraumer Zeit klingelte, das kleine Ding-Dong für die kleinen Lieben. Er stellte sein Glas ab und starrte weiter auf das trillernde Telefon. Sie stellte es immer zwischen ihren Schallplatten auf den Fußboden, wenn sie sich Musik vor­spielte. Sie lag dabei immer daneben - dort, beim Kamin -, lässig auf eine Hüfte hochgestützt, für den Fall, daß es sie rufen würde. Wenn sie schlafen ging, zog sie den Stöpsel aus der Dose und nahm es mit, drückte es an die Brust, auf daß es ihr in der Nacht Gesellschaft leiste. Wenn sie sich liebten, wußte er, daß er nur der Ersatz für alle die Männer war, die nicht angerufen hatten.

Für die Erste Elf.

Sogar für den toten Bill Haydon.

Es hatte zu klingeln aufgehört.

Was tut sie jetzt? Die Zweite Elf probieren? Schön sein und Ann ist eine Sache, hatte sie erst unlängst zu ihm gesagt - schön sein und in Anns Alter wird bald eineandere sein. Und häßlich und in meinem Alter sein ist nochmals eine andere, dachte er wütend. Er hob den Kontaktabzug auf und machte sich mit neuer Energie wieder an seine Betrachtungen.

Schatten, dachte er, Flecke von Hell und Dunkel auf den Wegen, die wir entlangtaumeln. Koboldshörner, Teufelshörner, unsere Schatten soviel größer als wir selber. Wer ist er? Wer war er? Bin ich ihm begegnet? Habe ich eine Begegnung abgelehnt? Und wenn ich abgelehnt habe, wieso kenne ich ihn dann? Er war ir­gendeine Art Bittsteller, ein Mann, der etwas verkaufen wollte -Informationen? Träume?

Wieder vollwach, streckte er sich auf dem Sofa aus - alles, nur nicht hinauf ins Bett gehen - und schweifte, mit dem Foto in der Hand, durch die langen Galerien seiner Erinnerung, hielt die La­terne an halbvergessene Portraits von Scharlatanen, Goldma­chern, Fälschern, Hausierern, Mittelsmännern, Spionen, Schur­ken und gelegentlich auch Helden, die in seinem vielschichtigen Bekanntenkreis die Nebenrollen gespielt hatten. Dabei hielt er Ausschau nach dem einen scharf beleuchteten Gesicht, das sich aus dem Kontaktabzug herausgelöst zu haben schien und nun wie ein heimlicher Teilhaber einen Platz in seinem schwanken­den Bewußtsein suchte. Der Strahl der Lampe glitt ab, zögerte, kam wieder darauf zurück. Die Dunkelheit hat mich irre ge­führt.

Ich bin ihm im Licht begegnet. Er sah ein gräßliches, neonbe­leuchtetes Hotelzimmer - Musikberieselung und Karotapeten -und den kleinen Fremden, der lächelnd in einer Ecke kauerte und ihn Max nannte. Ein kleiner Botschafter - aber welche Sache ver­trat er, welches Land? Er erinnerte sich an einen Mantel mit Samtaufschlägen und an harte, kleine Hände, die ihr eigenes Bal­lett aufführten. Er erinnerte sich an die leidenschaftlichen, lachenden Augen, den lebhaften Mund, der schnell auf und zu ging, aber er hörte keine Wörter. Er hatte das Gefühl, daß ihm etwas entglitt, daß er am Ziel vorbeischoß, daß da noch ein ande­rer, hochaufragender Schatten gewesen war, während sie spra­chen.