Vielleicht, dachte er. Alles ist vielleicht. Vielleicht war Wladimir doch von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen worden, dachte er, als die Glocke an der Wohnungstür wie ein Geier auf ihn einkreischte, zwei Klingelzeichen.
Sie hat wie immer ihren Schlüssel vergessen, dachte er.
Er war in der Diele, bevor er es recht gewahr wurde, und fummelte am Schloß. Ihr Schlüssel würde nichts nützen, stellte er fest, wie die Ostrakowa hatte er die Kette vorgelegt. Er fischte nach der Kette, rief »Ann, Moment!« und fühlte, daß seine Finger nichts faßten. Er rammte den Bolzen in der Laufschiene zurück und hörte den Knall im ganzen Haus widerhallen. »Komme schon!« rief er. »Warte! Nicht weggehen!«
Er riß die Tür weit auf, trat schwankend auf die Schwelle und bot sein Gesicht wie eine Opfergabe der mitternächtlichen Luft und der schwarzschimmernden lederbekleideten Gestalt dar, die mit dem Sturzhelm unter dem Arm gleich einem Sendboten des Todes vor ihm stand.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken Sir, gewiß nicht«, sagte der Fremde.
Smiley klammerte sich an die Türfüllung und starrte den Fremden wortlos an. Er war groß, trug einen Bürstenhaarschnitt und seine Augen spiegelten unerwiderte Loyalität.
»Ferguson, Sir. Erinnern Sie sich an mich, Sir, Ferguson? Leitete früher die Fahrbereitschaft für Mr. Esterhases Pfadfinder.«
Das schwarze Motorrad mit dem Seitenwagen war hinter ihm am Rinnstein geparkt, die liebevoll polierten Flächen der Maschine glitzerten unter der Straßenbeleuchtung.
»Ich dachte, die Pfadfinder seien aufgelöst«, sagte Smiley und starrte ihn immer noch an.
»Das stimmt, Sir. In alle vier Winde zerstreut, wie ich leider sagen muß. Die Kameradschaft, der Corpsgeist, alles für immer dahin.«
»Wer ist dann Ihr Auftraggeber?«
»Eigentlich niemand, Sir. Das heißt, offiziell niemand. Aber nach wie vor auf Seiten der Schutzengel.«
»Ich wußte gar nicht, daß wir Schutzengel haben.«
»Nein, es stimmt aber, Sir. Alle Menschen sind fehlbar, sage ich immer. Besonders heutzutage.« Er hielt Smiley einen braunen Umschlag hin. »Von gewissen Freunden von Ihnen, Sir, sagen wir mal so. Betrifft eine Telefonabrechnung, über die Sie Nachforschungen anstellten. Die Post spurt im allgemeinen recht gut, möchte ich sagen. Gute Nacht, Sir. Entschuldigen Sie die Störung. Zeit, daß Sie eine Mütze voll Schlaf bekommen, nicht wahr? Gute Männer sind Mangelware, sage ich immer.«
»Gute Nacht«, sagte Smiley.
Aber sein Besucher zögerte, wie jemand, der auf Trinkgeld wartet. »Aber in Wirklichkeit erinnern Sie sich sehr wohl an mich, Sir, wie? War bloß ein Versehen, nicht wahr?«
»Natürlich.«
Als er die Tür schloß, sah er, daß der Himmel voller Sterne war. Klare, vorn Tau noch vergrößerte Sterne. Fröstelnd nahm er eines von Anns zahlreichen Fotoalben heraus und öffnete es in der Mitte. Wenn eine Aufnahme ihr gefiel, klemmte sie immer das Negativ dahinter. Er wählte ein Bild, das sie beide am Cap Ferrat zeigte - Ann im Badeanzug, Smiley wohlweislich bedeckt-, und tauschte das Negativ gegen Wladimirs Film aus. Er räumte Chemikalien und Geräte weg und ließ den Abzug in den zehnten Band seines Oxford Dictionary von 1961 gleiten, unter Y für Yesterday. Er öffnete Fergusons Umschlag, schaute verdrossen auf seinen Inhalt, registrierte ein paar Eintragungen und das Wort »Hamburg« und schob das Ganze in eine Schreibtischlade. Morgen, dachte er, jedem Tag sein Rätsel. Er kroch ins Bett, wie immer unschlüssig, auf welcher Seite er schlafen sollte. Er schloß die Augen, und sofort schössen ihm, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, die Fragen in wilden, chaotischen Salven durch den Kopf.
Warum hat Wladimir nicht Hector verlangt, fragte er sich zum hundertsten Mal. Warum hat der alte Mann Esterhase, alias Hector, mit den City Banken verglichen, die einem den Schirm wegnehmen, wenn es regnet?
Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann.
Sie anrufen? Sich in den Anzug werfen und zu ihr stürzen, wie ein heimlicher Liebhaber, der sich bei Tagesanbruch wieder davonschleicht? Zu spät, sie war bereits versorgt.
Plötzlich begehrte er sie brennend. Er konnte den Raum um sich nicht mehr ertragen, der sie nicht enthielt, er sehnte sich nach ihrem bebenden Körper, nach ihrem Lachen, wenn sie ihm zurief, ihn ihren einzig wahren, ihren besten Liebhaber nannte, sie wollte keinen anderen, niemals: »Frauen sind gesetzlos, George«, hatte sie einmal in einem der seltenen Augenblicke gesagt, als sie friedlich nebeneinanderlagen. »Und was bin ich?« hatte er gefragt, und sie darauf: »Mein Gesetz.« »Und was war Haydon?« hatte er gefragt. Und sie lachte und sagte: »Meine Anarchie.«
Er sah wieder das kleine Foto vor sich, das, wie der kleine Fremde selbst, in seine schwindende Erinnerung geprägt war. Ein kleiner Mann, mit einem großen Schatten. Er erinnerte sich an Willems Beschreibung von der kleinen Gestalt auf dem Boot in Hamburg, die wie Hörner aufgezwirbelten Haarbüschel, das zerfurchte Gesicht, die mahnenden Augen. General, dachte er chaotisch, könnten Sie mir nicht Ihren Freund, den Magier, nochmals schicken?
Vielleicht. Alles ist vielleicht.
Hamburg, dachte er, kletterte schnell aus dem Bett und zog seinen Morgenrock an. Er setzte sich wieder an Anns Schreibtisch und machte sich ernsthaft an die Prüfung der Liste von Wladimirs Anrufen, die ein Postbeamter in gestochener Schrift aufgestellt hatte. Er nahm ein Blatt Papier und warf Notizen darauf. Faktum: Anfang September erhält Wladimir den Brief aus Paris und räumt ihn Mikhel aus den Klauen.
Faktum: Etwa um dieselbe Zeit tätigt Wladimir ganz ungewöhnlicherweise einen kostspieligen Fernruf nach Hamburg, handvermittelt, vermutlich, damit er später die Gebühren zurückbekommen kann.
Faktum: Nochmals drei Tage danach, am achten, nimmt Wladimir ein R-Gespräch aus Hamburg entgegen, Gebühr zwei Pfund achtzig. Anrufer, Dauer und Uhrzeit sind aufgeführt, und der Anrufer hat dieselbe Nummer, mit der Wladimir vor drei Tagen telefoniert hatte.
Hamburg, dachte Smiley wieder, und seine Gedanken schweiften zu dem Knirps auf dem Foto. Die R-Gespräche waren mit Unterbrechungen bis vor drei Tagen weitergegangen, neun Anrufe zu insgesamt einundzwanzig Pfund, alle aus Hamburg an Wladimir. Aber wer hatte ihn angerufen? Aus Hamburg? Wer?
Plötzlich fiel es ihm ein.
Die hochaufragende Gestalt in dem Hotelzimmer, der große Schatten des kleinen Mannes, war Wladimir selbst gewesen. Er sah sie nebeneinander stehen, beide in schwarzen Mänteln, der Riese und der Zwerg.
Das verlotterte Hotel mit Musikberieselung und Karotapete lag am Flughafen Heathrow, wohin die beiden so ungleichen Männer zu einer Unterredung geflogen waren, genau in dem Augenblick, als Smileys berufliche Identität in Trümmer ging. Max, wir brauchen Sie. Max, geben Sie uns eine Chance.
Smiley hob ab und wählte die Nummer in Hamburg. Am anderen Ende sagte eine männliche Stimme leise »Ja?« und ließ eine Pause folgen.
»Könnte ich«, sagte Smiley und wählte auf gut Glück einen Namen, »könnte ich bitte Herrn Dieter Fassbender sprechen?« Deutsch war Smileys zweite Sprache und manchmal seine erste. »Hier gibt es keinen Fassbender« sagte dieselbe Stimme kühl nach einer kleinen Pause, als habe der Sprecher sich bei jemandem erkundigt. Smiley konnte leise Musik im Hintergrund hören.
»Hier ist Leber«, beharrte Smiley. »Ich muß dringend Herrn Fassbender sprechen. Ich bin sein Partner.«
Wieder längere Zeit nichts.