»Bedaure«, sagte der Mann nach einer weiteren Pause kurz angebunden - und legte auf.
Kein Privathaus, dachte Smiley, der hastig seine Eindrücke zu Papier brachte. - Der Sprecher hatte die Wahl zwischen zu vielen Möglichkeiten. Keine Behörde, denn welche Behörde spielt leise Hintergrundmusik und ist um Mitternacht an einem Samstag geöffnet? Ein Hotel? Möglich, aber ein einigermaßen großes Hotel hätte ihn mit dem Empfang verbunden und ein Minimum von Höflichkeit an den Tag gelegt. Ein Restaurant? Zu verstohlen, zu sehr auf der Hut - und zudem hätten sie sich sicher mit Namen gemeldet.
Die Teile nicht gewaltsam zusammenfügen, mahnte er sich. Einspeichern. Geduld. Aber wie soll man geduldig sein, wenn man so wenig Zeit hat?
Er ging wieder ins Bett, öffnete eine Nummer von Cobbetts Rural Rides und versuchte darin zu lesen, während er müßig über so gewichtige Dinge nachdachte, wie über seinen Bürgersinn und wieviel oder wie wenig davon er Oliver Lacon schuldete: >Ihre Pflicht, George.< Doch wer könnte ernsthaft Lacons Mann sein? Wer könnte Lacons schwache Argumente als Hinweise für das nehmen, was des Kaisers ist?
»Emigranten hui, Emigranten pfui. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln«, murrte er laut.
Es schien Smiley, als hätte er sein ganzes Berufsleben lang nichts als derartige Absurditäten zu hören bekommen, die angeblich einschneidende Änderungen in der Whitehall-Doktrin signalisierten; Zurückhaltung predigten, Selbstverleugnung, immer irgendeinen Grund, um nichts zu tun. Er hatte beobachtet, wie Whitehalls Rocksäume nach oben rutschten, dann wieder nach unten, wie der Gürtel enger geschnallt wurde, weiter, enger. Er war der Zeuge oder das Opfer - manchmal sogar der unfreiwillige Prophet - solch flüchtiger Kulte gewesen wie Lateralismus, Parallelismus, Separatismus, operative Dezentralisierung, und jetzt - wenn er Lacons jüngste Ausführungen noch richtig im Kopf hatte - Integration. Jede neue Mode war jubelnd als Patentrezept begrüßt worden: >Jetzt werden wir siegen, jetzt wird die Maschine funktionieren.< Jede war sang- und klanglos untergegangen, unter Hinterlassung des üblichen englischen Kuddelmuddels, als dessen lebenslangen Sachwalter er sich, in der Rückschau, immer mehr sah. Er hatte Zurückhaltung geübt, in der Hoffnung, daß andere dies auch tun würden, was dann aber nicht der Fall war. Er hatte in den Kulissen gewerkt, während Hohlköpfe die Bühne beherrschten, damals wie heute. Vor fünf Jahren noch hätte er sich derartige Gefühle nie eingestanden. Aber heute sah Smiley leidenschaftslos in sein eigenes Herz und erkannte, daß er ungeführt und vielleicht unführbar war; daß die einzigen Forderungen, denen er sich fügte, die seines Verstandes und seiner Menschlichkeit waren. Es war ihm mit seinem Dienst an der Öffentlichkeit so ergangen wie mit seiner Ehe: Ich habe mein Leben in Institutionen investiert, dachte er ohne Bitterkeit, und alles, was mir geblieben ist, bin nur ich selbst.
Und Karla, dachte er, mein schwarzer Gral.
Er konnte nichts dagegen tun, sein schweifender Geist wollte ihn einfach nicht zur Ruhe kommen lassen. Er starrte vor sich hin ins Dunkel, sah Karlas Bild vor sich, wie es in den schwebenden Schattenflecken zerbarst und wiedererstand. Er sah, wie die braunen, aufmerksamen Augen ihn abschätzten, so wie sie ihn damals, vor hundert Jahren, aus der Dunkelheit der Verhörzelle eines Gefängnisses in Delhi abgeschätzt hatten: Augen, die auf den ersten Blick Sensibilität und Kameradschaft anzuzeigen schienen; sich dann wie schmelzendes Glas langsam zu vollkommener Spröde und Unnachgiebigkeit verhärteten. Er sah sich auf die staubverwehte Rollbahn des Flughafens in Delhi treten und eine Grimasse schneiden, als die indische Hitze vom Boden zu ihm hochschlug. Smiley, alias Barraclough oder Standfast oder welchen Namen auch immer er in jener Woche aus der Mappe gefischt hatte - er wußte es nicht mehr.
Auf alle Fälle ein Smiley der sechziger Jahre, Smiley, der Handlungsreisende, wie sie ihn nannten, der im Auftrag des Circus den Globus abgraste und umsteigwilligen Agenten aus der Moskauer Zentrale die Vorteile eines Frontwechsels schmackhaft machte. Die Zentrale führte damals gerade eine ihrer periodischen Säuberungsaktionen durch, und die Wälder wimmelten von russischen Außenagenten, die sich nicht mehr nach Hause trauten. Ein Smiley, der Anns Ehemann und Bill Haydons Kollege war und der sich immer noch einen Rest von Illusionen bewahrt hatte. Ein Smiley, der nichtsdestoweniger am Rand einer inneren Krise balancierte, denn es war das Jahr, in dem Ann ihr Herz an einen Ballettänzer verlor; Bill sollte erst später an die Reihe kommen.
In der Dunkelheit von Anns Schlafzimmer erlebte er wieder seine Fahrt zum Gefängnis, in einem ratternden und tutenden Jeep, auf dessen Trittbrett lachende Kinder hingen; sah die Ochsenkarren und das ewige, indische Menschengewimmel, die Hütten am braunen Flußufer. Er nahm den Geruch von getrockneten Kuhfladen und ewig schwelenden Feuern wahr -Feuer zum Kochen und Feuer zum Reinigen; Feuer zur Beseitigung der Toten. Er sah das Eisentor des alten Gefängnisses und die perfekt gebügelten britischen Uniformen der Wärter, als sie knietief durch die Gefangenen wateten.
»Hier entlang, Euer Gnaden, Sir. Wollen Eure Exzellenz bitte die Güte haben, uns zu folgen!«
Ein europäischer Gefangener, der sich Gerstmann nannte.
Ein kleiner, grauhaariger und blauäugiger Mann in einem roten Kattun-Kittel, der wie der letzte Überlebende einer ausgestorbenen Priesterschaft aussah.
In Handschellen: »Bitte abnehmen, Officer, und bringen Sie ein paar Zigaretten«, sagte Smiley.
Ein Gefangener, den London als einen Agenten der Moskauer Zentrale identifiziert hatte und der jetzt darauf wartete, nach Rußland abgeschoben zu werden. Ein kleiner Infanterist des Kalten Krieges, wie es damals schien, der wußte - mit tödlicher Sicherheit wußte-, daß ihn bei einer Rückkehr nach Rußland der Gulag oder das Erschießungskommando oder beides erwartete. Jemand, der in den Händen des Feindes gewesen war, war in den Augen der Zentrale selbst zu einem Feind geworden: Ob er nun gesprochen oder dicht gehalten hatte, spielte dabei keine Rolle. Kommen Sie zu uns, hatte Smiley über den Eisentisch hinweg gesagt.
Kommen Sie zu uns, und Sie erwartet das Leben.
Gehen Sie nach Hause, und Sie erwartet der Tod.
Seine Hände waren feucht - Smileys Hände. Die Hitze war fürchterlich. Zigarette? hatte Smiley gefragt, hier, nehmen Sie mein Feuerzeug. Es war ein goldenes Feuerzeug, das seine Schweißspuren trug. Graviert. Ein Geschenk Anns zum Trost für ein Miß verhalten. Für George von Ann in aller Liebe. Es gibt große Lieben und kleine Lieben, sagte Ann gerne, doch als sie die Inschrift verfaßt hatte, bedachte sie ihn mit beiden Spielarten. Es war vermutlich die einzige Gelegenheit, bei der sie das tat.
Kommen Sie zu uns, hatte Smiley gesagt. Retten Sie sich.
Sie haben nicht das Recht, eine Überlebenschance abzulehnen. Smiley wiederholte zuerst mechanisch, dann leidenschaftlich, alle die gängigen Argumente, während sein Schweiß auf den Tisch tropfte. Kommen Sie zu uns. Sie haben nichts zu verlieren. Ihre Lieben in Rußland sind bereits verloren. Ihre Rückkehr würde für sie die Dinge nur noch schlimmer machen, nicht besser.
Kommen Sie zu uns. Ich bitte Sie. Hören Sie auf mich, auf die Argumente, die Philosophie.
Und er wartete darauf, daß sein Gegenüber irgendeine Reaktion auf sein zunehmend verzweifelteres Drängen zeigen würde. Daß die braunen Augen zucken, daß die steifen Lippen durch die Kringel des Zigarettenrauchs ein einziges Wort aussprechen würden: Ja, ich komme zu euch. Ja, ich will auspacken. Ja, ich akzeptiere euer Geld, euer Versprechen, für mich zu sorgen, das Rumpfleben eines Überläufers. Er wartete darauf, daß die von den Handschellen befreiten Hände aufhören würden, mit Anns Feuerzeug herumzuspielen, für George von Ann in aller Liebe. Doch je mehr Smiley in ihn drang, desto dogmatischer wurde Gerstmanns Schweigen. Smiley drängte ihm Antworten auf, doch Gerstmann hatte keine dazu passenden Fragen. Allmählich wurde Gerstmanns fugenlose Festigkeit unheimlich. Er war ein Mann, der sich mit dem Galgen abgefunden hatte, der lieber von der Hand seiner Freunde sterben, als von der Hand seiner Feinde leben wollte. Am nächsten Morgen gingen sie auseinander, jeder seinem vorgezeichneten Schicksal entgegen: Gerstmann flog nach Moskau zurück, überlebte gegen jede Wahrscheinlichkeit die Säuberung und florierte und gedieh. Smiley kehrte mit hohem Fieber zu seiner Ann und zu - fast - all ihrer Liebe zurück; und zu der späteren Erkenntnis, daß Gerstmann niemand anderer als Karla selbst war, Bill Haydons Anwerber, Einsatzleiter, Mentor; und der Mann, der Bill in Anns Bett gezaubert hatte - in eben das Bett, in dem Smiley jetzt lag - um Smileys sich verdichtenden Argwohn von Bills größerem Verrat abzulenken, vom Verrat am britischen Geheimdienst und seinen Agenten. Karla, dachte er, als sich seine Augen in die Dunkelheit bohrten, was willst du jetzt von mir? Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann.