»Oliver Lacon möchte, daß ich den Aufwasch besorge. Da Sie der Postbote in der Gruppe waren, würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten.«
»Klar«, sagte Toby entgegenkommend.
»Also wußten Sie davon? Von seinem Tod?«
»Hab's in der Zeitung gelesen.«
Smiley ließ die Blicke durch den Raum schweifen. Nirgends war eine Zeitung zu sehen.
»Irgendeine Theorie, wer es getan hat?« fragte Smiley.
»In seinem Alter, George? Nach einem Leben voll Enttäuschungen, wie man wohl sagen kann? Keine Familie, keine Zukunft, die Gruppe völlig dahin - ich vermute, er hat es selber getan. Ganz natürlich.«
Vorsichtig ließ Smiley sich auf die Chaiselongue nieder und nahm, scharf beobachtet von Toby, das Bronze-Modell einer Tänzerin vom Tisch.
»Sollte dies hier nicht eine Nummer tragen, wenn es ein Degas ist, Toby?« fragte Smiley.
»Bei Degas gibt es eine gewaltige Grauzone, George. Da muß man schon hundertprozentig sicher sein.«
»Aber das hier ist echt?« fragte Smiley, und es klang, als wolle er es tatsächlich wissen.
»Vollkommen«.
»Würden Sie mir die Statuette verkaufen?«
»Was soll das?«
»Rein akademisches Interesse. Ist sie verkäuflich? Käme ich, gegebenenfalls, als Käufer überhaupt in Betracht?«
Toby zuckte leicht verlegen die Achseln.
»George, hören Sie, hier geht es um Tausende, verstehen Sie? So was wie eine Jahresrente oder dergleichen.«
»Wann haben Sie eigentlich zuletzt mit Wladimirs Netz zu tun gehabt, Toby?« fragte Smiley und stellte die Tänzerin wieder auf den Tisch.
Toby verdaute die Frage ausgiebig.
»Netz?« echote er schließlich ungläubig. »Habe ich >Netz< gehört, George?« Normalerweise war in Tobys Repertoire wenig Platz für Lachen, aber jetzt brachte er doch einen kleinen, wenn auch verkrampften Heiterkeitsausbruch zustande. »Diese Gruppe von Verrückten nennen Sie ein Netz? Zwanzig meschuggene Balten, undicht wie alte Scheunen, das gibt bereits ein Netz?«
»Nun ja, irgendwie müssen wir sie benennen«, meinte Smiley einlenkend.
»Irgendwie, klar. Bloß nicht Netz, okay?«
»Wie lautet also die Antwort?«
»Welche Antwort?«
»Wann hatten Sie den letzten Kontakt mit der Gruppe?«
»Jahre her. Bevor sie mich geschaßt haben. Jahre her.«
»Wieviele Jahre.«
»Weiß ich nicht.«
»Drei?«
»Möglich.«
»Zwei?«
»George, wollen Sie mich festnageln?«
»Sieht so aus. Ja.«
Toby nickte ernst, als habe er das schon die ganze Zeit kommen sehen.
»Und haben Sie vergessen, George, wie es bei unseren Lamplighters zuging? Wie überlastet wir waren? Wie meine Jungens und ich für die Hälfte aller Netze des Circus Postboten spielten? Erinnern Sie sich? Wieviele Treffs, wieviele Autokunden in einer Woche? Zwanzig, dreißig? Einmal, in der Hochsaison, vierzig? Gehen Sie in die Registratur, George. Wenn Sie Lacons Segen haben, gehen Sie in die Registratur, holen Sie die Akte, sehen Sie sich die Treff-Formulare an. Dann wissen Sie es genau. Kommen Sie nicht hierher und versuchen Sie nicht, mir ein Bein zu stellen, Sie wissen, was ich meine, wie? Degas, Wladimir- ich mag diese Fragen nicht. Ein Freund, ein ehemaliger Boß, mein eigenes Haus - es regt mich auf, okay?«
Nach dieser, sowohl für Smiley wie für ihn selber überraschend langen Rede schwieg Toby, als warte er darauf, daß Smiley die Erklärung für soviel Beredsamkeit lieferte. Dann trat er einen Schritt vor und drehte flehend die Handflächen nach oben.
»George«, sagte er vorwurfsvoll. »George, mein Name lautet Benati, okay?«
Smiley schien in tiefe Niedergeschlagenheit verfallen zu sein. Düster starrte er auf die Stapel schmieriger Kunstkataloge, die über den ganzen Teppich verteilt waren.
»Ich heiße nicht Hector, ganz entschieden nicht Esterhase«, sagte Toby energisch. »Ich habe ein Alibi für jeden Tag des Jahres - habe mich vor meiner Kreditbank versteckt. Glauben Sie, ich möchte mir Scherereien aufhalsen? Emigranten, sogar Polizei? Ist dies ein Verhör, George?«
»Toby, Sie kennen mich.«
»Eben. Ich kenne Sie, George. Ich soll Ihnen Streichhölzer geben, damit Sie mich rösten können.«
Smileys Blick blieb starr auf die Kataloge gerichtet. »Ehe Wladimir starb - Stunden vorher -, rief er den Circus an«, sagte er.
»Er sagte, er habe Informationen für uns.«
»Aber dieser Wladimir war ein alter Mann, George!« Tobys Proteste klangen, zumindest für Smileys Ohr, allzu energisch. »Hören Sie, von seiner Sorte gibt's jede Menge. Großer Background, zu lange auf der Gehaltsliste gewesen, sie werden alt, verkalkt, schreiben an verrückten Memoiren, sehen überall weltweite Verschwörungen, verstehen Sie, was ich meine?«
Smiley betrachtete unbewegt die Kataloge, der runde Kopf ruhte auf den geballten Fäusten.
»Warum sagen Sie das eigentlich, Toby?« fragte er nörgelnd. »Ich kann Ihrem Gedankengang nicht folgen.«
»Was meinen Sie mit >warum ich das sage<? Alte Überläufer, alte Spione, sie werden ein bißchen plemplem. Hören Stimmen, reden mit den Piepmätzen. Ganz normal.«
»Hat Wladimir Stimmen gehört?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Genau das habe ich Sie gefragt, Toby«, erklärte Smiley nüchtern den Katalogen. »Ich habe gesagt, Wladimir behauptete, Neuigkeiten für uns zu haben, undSie antworteten, er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Ich fragte mich, woher Sie das wissen. Daß Wladimir nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Ich fragte mich, welchen Datums wohl Ihre Kenntnis seines Geisteszustands sein mag. Und warum es Sie gar nicht interessiert, was er uns hat sagen wollen. Weiter nichts.«
»George, das sind alte Spiele, die Sie da treiben. Drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um, okay? Wenn Sie mich fragen wollen, fragen Sie. Bitte. Aber nicht meine Worte verdrehen.«
»Es war kein Selbstmord, Toby«, sagte Smiley, noch immer ohne ihn anzublicken. »Es wareindeutig kein Selbstmord. Ich sah die Leiche, Sie dürfen mir glauben. Es war auch kein eifersüchtiger Ehemann - es sei denn, er wäre mit einer Mordwaffe aus der Moskauer Zentrale ausgerüstet gewesen. Wie haben wir diese Spezialwaffe immer genannt? Den inhumanen Killer, stimmt's? Genau das hat Moskau benutzt. Einen inhumanen Killer.«
Wiederum versank Smiley in Nachdenken, doch diesmal war Toby - wenn auch verspätet - schlau genug, schweigend zu warten.
»Also, Toby, als Wladimir vor seinem Tod im Circus anrief, verlangte erMax. Mich, mit anderen Worten. Nicht seinen Postboten, derSie gewesen wären. Nicht Hector. Er verlangte seinen Vikar, der, bis daß der Tod uns scheiden würde, ich war. Gegen alles Protokoll, gegen alle Regeln und gegen alles bisher Dagewesene. Hat das noch nie getan. Ich war natürlich nicht da - also boten sie ihm einen Ersatzmann an, einen albernen grünen Jungen namens Mostyn. Es spielte keine Rolle, denn sie trafen einander ohnehin nicht, als es soweit war. Aber können Sie mir sagen, warum er nicht Hector sprechen wollte?«
»George, also, ich muß schon sagen! Schatten, Sie machen Jagd auf Schatten! Soll ich jetzt wissen, warum er nicht mich verlangt hat? Wir sind plötzlich schuld an dem, was andere Leute nicht tun? Was soll das?«
»Hatten Sie Streit mit ihm? Könnte das der Grund gewesen sein?«
»Warum sollte ich mit Wladimir Streit haben? Er war immer so dramatisch, George. So sind sie, diese alten Knaben im Ruhestand.« Toby legte eine Pause ein, wie um anzudeuten, daß auch Smiley nicht über solche kleinen Schwächen erhaben sei. »Sie langweilen sich, vermissen ihre Einsätze, möchten gestreichelt werden, also blasen sie eine Mücke zum Elefanten auf.«